: Eduard von Keyserling
: Jürgen Schulze
: Fräulein Rosa Herz Eine Kleinstadtliebe
: Null Papier Verlag
: 9783954189908
: Keyserling bei Null Papier
: 3
: CHF 0.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 378
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Fräulein Herz, Fräulein Rosa Herz - schon der Name weckt Empfindungen und ist vom Autor nicht eben zufällig gewählt. »Den Ort, an dem Fräulein Rosa Herz das Licht der Welt zuerst erblickt hatte, vermochte keiner anzugeben. Wo ihre Wiege gestanden - ob sie überhaupt je eine Wiege besessen -, wer konnte es wissen!« Rosa ist das Kind eines umherstromenden Balletttänzer-Paares, das nur schwer sesshaft werden kann. Nach dem Tod der Mutter sind Rosa und ihr überforderter Vater auf sich gestellt. Als sich Rosa als junges Mädchen in den jungen Ambrosius verliebt, beginnen die Schwierigkeiten, denn Ambrosius ist schon der Tochter des ehrgeizigen Bürgmeisters versprochen; und dieser versucht alles, um die jungen Liebenden zu entzweien. Ein spannender, zu Herzen gehender Roman über die Unbill des Lebens. Wer den poetischen Realismus eines Fontane mag, der muss die Sprache eines Keyserling einfach lieb gewinnen. Null Papier Verlag

Eduard Graf von Keyserling (1855-1918) war ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus. Seine Schwestern Henriette (1839-1908) und Elise (1842-1915) wurden ebenso als Schriftstellerinnen bekannt. Keyserling war selbst in seinem Stand ein Einzelgänger und gesellschaftlich isoliert. Immer mal wieder vergessen und neu entdeckt gilt Keyserling aufgrund seiner ab 1903 veröffentlichten Erzählungen, Novellen und Romane als einer der wenigen bedeutenden impressionistischen Erzähler.

Erstes Kapitel


Den Ort, an dem Fräu­lein Rosa Herz das Licht der Welt zu­erst er­blickt hat­te, ver­moch­te kei­ner an­zu­ge­ben. Wo ihre Wie­ge ge­stan­den – ob sie über­haupt je eine Wie­ge be­ses­sen –, wer konn­te es wis­sen! Über je­nen Teil von Fräu­lein Ro­sas Le­ben hat­te sich un­durch­dring­li­ches Dun­kel ge­brei­tet.

Herr Klappe­kahl, der Apo­the­ker, war ge­wiss ein Mann von sel­te­nem Scharf­blick. Ein hal­b­es Jahr hat­te er in der Re­si­denz ver­lebt, und die Früch­te je­nes Auf­ent­hal­tes, ohne Zwei­fel, wa­ren: Welt­klug­heit, Bil­dung, skep­ti­sche Klar­heit in der Be­ur­tei­lung der ver­wi­ckelts­ten Ver­hält­nis­se; Ei­gen­schaf­ten, die ein je­der ihm zu­er­kann­te. Vi­el­leicht auch ein An­flug von Fri­vo­li­tät, aber – »mein Gott!« mein­te er, »wer kann sich in der ver­derb­ten Welt­stadt da­vor be­wah­ren!« Herr Klappe­kahl nun pfleg­te zu sa­gen, wenn das Ge­spräch auf Rosa Herz kam: »Ihren Ge­burts­ort? Gott, wer soll den ken­nen! Sol­che arme Wür­mer kom­men eben­so ge­räusch­los und plötz­lich zur Welt wie die Pil­ze nach dem Som­mer­re­gen. Ge­le­gent­lich ein­mal, wäh­rend ei­nes Zwi­schen­ak­tes, hin­ter ei­ner al­ten Ku­lis­se, was weiß ich! – Das Pub­li­kum klatscht und ruft. Dann tritt der Re­gis­seur vor und dankt, denn die Fee oder der En­gel kann nicht er­schei­nen, ein klei­nes Un­wohl­sein… Und in ei­ner Ecke hört man’s pie­pen. In ei­ner ver­staub­ten Pap­prüs­tung – auf ei­nem wa­cke­li­gen Thea­terthron liegt et­was in Ga­ze­fet­zen ge­wi­ckelt und wim­mert. Das ist dann das Kind, Fräu­lein Sound­so, Fräu­lein Rosa. Es wird mit all dem Plun­der zu­sam­men­ge­packt, und wei­ter geht es. Glau­ben Sie, Ma­da­me Herz oder Mon­sieur Spring­ins­feld er­in­ner­ten sich schließ­lich selbst dar­an, wo die Ge­schich­te mit dem Kin­de pas­sier­te? Gott be­wah­re! Das geht al­les so ge­schwind; heu­te hier, mor­gen dort. Ich ken­ne das!«

Was kann­te Herr Klappe­kahl nicht! Und hier hat­te er, wie sonst im­mer, recht. Ro­sas Mut­ter war Bal­let­tän­ze­rin, ihr Va­ter Bal­let­tän­zer ge­we­sen. Wäh­rend des rast­lo­sen Um­her­zie­hens von ei­ner Stadt zur an­de­ren war Rosa ge­bo­ren wor­den; doch kos­te­te ihre Ge­burt der ar­men Ma­da­me Herz das Le­ben. Herr Herz – trau­rig, ein­sam, des Tan­zens müde, sehn­te sich da­nach, sein un­s­te­tes Le­ben mit ei­nem ru­hi­ge­ren zu ver­tau­schen. Auf die­sem Stand­punk­te an­ge­langt, ge­dach­te er wie­der sei­ner Hei­mat­stadt.

Als Kna­be hat­te er sie ver­las­sen, zum Leid­we­sen sei­nes Va­ters, des bra­ven Schus­ter­meis­ters Herz, um, statt für die Füße an­de­rer Leu­te zu sor­gen, sich mit den sei­ni­gen un­s­terb­li­chen Ruhm zu er­wer­ben. Jetzt sehn­te sich sein al­tern­des Herz nach der fried­li­chen Hei­mat zu­rück. Sein Va­ter war längst tot, aber eine Schwes­ter leb­te ihm noch; eine mus­ter­haf­te Schwes­ter. Als Herr Herz von dem Ver­lus­te sei­ner Gat­tin be­trof­fen ward, lang­te ein schwarz­ge­rän­der­tes Schrei­ben von Frl. Ina Herz an, voll schwes­ter­li­chen Be­dau­erns und from­mer Er­mah­nun­gen. Am Schluss mein­te die gute See­le: Da die klei­ne Rosa der müt­ter­li­chen Pfle­ge be­raubt sei, möge man ihr das Kind brin­gen; sie wol­le für das­sel­be sor­gen und ihm eine zwei­te Mut­ter sein. – Gerührt von so­viel Lie­be, be­schloss Herr Herz, nicht nur das Kind, son­dern auch sich selbst der Sorg­falt sei­ner gu­ten Schwes­ter an­zu­ver­trau­en. So be­gab er sich denn mit sei­ner Toch­ter in sei­ne Hei­mat­stadt zu­rück.

An­fangs zwar war Fräu­lein Ina über die­se Wen­dung der Din­ge ein we­nig be­stürzt; aber ihre mu­ti­ge See­le fand sich selbst in die neue Le­bens­la­ge hin­ein. Die gan­ze Fa­mi­lie Herz ver­sam­mel­te sich trau­lich um einen Herd und leb­te in Ein­tracht von dem klei­nen Ver­mö­gen des Fräu­lein Ina, denn Herr Herz hat­te aus sei­ner lan­gen Künst­ler­lauf­bahn nur stei­fe Bei­ne und grei­se Haa­re ge­ret­tet. »Er­tanz­tes Geld«, mein­te er – und er hat­te sei­ner­zeit viel er­tanzt – »sei, weiß es Gott, das un­be­stän­digs­te der Welt!«

Fräu­lein Ina pfleg­te ihre Schutz­be­foh­le­nen mit je­ner zar­ten Auf­op­fe­rung, die be­son­ders al­ten Frau­en­her­zen ei­gen zu sein scheint, de­nen das Le­ben es lan­ge Zeit ver­sagt hat, ihre Lie­be­be­dürf­tig­keit zum Aus­druck zu brin­gen. Die mü­den Füße des Bal­let­tän­zers durf­ten jetzt in be­que­men Pan­tof­feln aus­ru­hen, und die stil­le, ge­ord­ne­te Häus­lich­keit ge­währ­te dem ge­plag­ten Ko­mö­di­an­ten-Her­zen ein tie­fes Be­ha­gen. Herr Herz wur­de mit sei­ner al­ten Schwes­ter selbst zur al­ten Jung­fer. Er be­such­te flei­ßig die Kir­che, ward Mit­glied des Ar­men­ver­ei­nes; sam­mel­te eif­rig die klei­nen Er­eig­nis­se der Stadt, um sie eif­rig wie­der aus­zu­tra­gen. Sah man die Ge­schwis­ter Herz bei­ein­an­der, so fand man mehr männ­li­che Ent­schlos­sen­heit in Fräu­lein Ina als in ih­rem Bru­der.

Auf die klei­ne Rosa ward die äu­ßers­te Sorg­falt ver­wandt. Fräu­lein Ina ließ das Kind nicht aus den Au­gen; es muss­te zu ih­ren Fü­ßen auf dem Tep­pich spie­len, sie sang es des Abends mit tiefer, hei­se­rer Stim­me in den Schlaf; sie nahm es stets in die Kir­che mit. Rosa schlief zwar wäh­rend des gan­zen Got­tes­diens­tes; Fräu­lein Ina je­doch mein­te, der blo­ße Auf­ent­halt in dem hei­li­gen Raum müss­te gut­tun; viel­leicht hoff­te sie auch da­durch ge­wis­se welt­li­che Ein­flüs­se zu ban­nen, die bei der Ge­burt des Kin­des ge­wal­tet ha­ben moch­ten.

Nach­dem Herr Herz sich eine Zeit­lang aus­ge­ruht hat­te, fühl­te er wie­der den Drang nach Be­schäf­ti­gung in sich er­wa­chen, auch quäl­te ihn das Be­wusst­sein, nur auf die Mild­tä­tig­keit sei­ner Schwes­ter an­ge­wie­sen zu sein. Die Stel­le ei­nes Turn­leh­rers am städ­ti­schen Gym­na­si­um war frei. Er be­warb sich um die­sel­be und er­hielt sie. Da­ne­ben er­bot er sich, jähr­lich, von Weih­nacht bis zu den Fas­ten, den her­an­wach­sen­den Her­ren und Da­men des Städt­chens Tanz­un­ter­richt zu er­tei­len.

Das ein­träch­ti­ge Bei­sam­men­le­ben moch­te ei­ni­ge Jah­re ge­dau­ert ha­ben, als Fräu­lein Ina ei­nes Mor­gens ih­rem Bru­der mel­den ließ, er möge beim Früh­stück nicht auf sie zäh­len, da sie, ei­nes leich­ten Un­wohl­seins we­gen, län­ger im Bett blei­ben wol­le. Aber auch um die Mit­tags­stun­de, als er aus dem Gym­na­si­um heim­kehr­te, fand er sei­ne Schwes­ter nicht im Wohn­zim­mer. Er eil­te in ihre Schlaf­kam­mer. Da lag sie bleich und re­gungs­los auf ih­rem Bett. Die klei­ne Rosa saß auf dem Estrich da­ne­ben und spiel­te mit der her­ab­hän­gen­den Hand ih­rer Tan­te. Fräu­lein Ina war tot.

Die­ser Ver­lust muss­te den ar­men Herrn Herz auf das Emp­find­lichs­te tref­fen. Nicht nur die Lie­be zu der treu­en Schwes­ter wein­te in sei­nem Her­zen; ne­ben die­ser tap­fern und kräf­ti­gen Ge­nos­sin hat­te er sich ent­wöhnt, für sich und sein Kind zu sor­gen. Wie eine wohl­tä­ti­ge Vor­se­hung hat­te Fräu­lein Ina um ihn ge­wal­tet und ihm jede Auf­re­gung ei­nes Ent­schlus­ses er­spart. Jetzt, die­ser Stüt­ze be­raubt, fühl­te er sich hilf­los und...