1 Reichsstadt
Die Sonne war gerade erst über den Horizont gestiegen, doch sie brannte bereits heiß auf die Dächer herab. Ein Gewirr aus deutschen und französischen Vokabeln hallte zwischen den Häusern, Karren verschiedener Größe rumpelten über die lehmigen Straßen, durch die der Geruch von menschlichen Ausdünstungen und tierischen Hinterlassenschaften wehte.
Es war der 13. August, als Lisa das obere Holztor der ehemaligen Reichsstadt Gelnhausen durchschritt und sich inmitten dieses Getümmels wiederfand. Der 13. August 1807, um genau zu sein. Das hatte sie gerade von einem Waldarbeiter erfahren, dem sie vor der Stadt begegnet war. Dabei hatte sie schon zuvor geahnt, dass etwas nicht normal war: Rund um das Stadttor, das den Weg nach Büdingen markierte, wimmelte es von Soldaten in französischen Uniformen. Das hätte es eigentlich nicht in dieser Zahl und mit dieser Selbstverständlichkeit geben dürfen – zumindest nicht in dem Jahr, in dem sich Lisa noch wenige Stunden zuvor befunden hatte. 1791 waren noch keine Franzosen im Kinzigtal an der Tagesordnung. Selbst, wenn Lisa an den Worten des Waldarbeiters gezweifelt hätte – und warum hätte er sie anlügen sollen? – dieses Bild hätte sie endgültig überzeugt.
Was nicht hieß, dass sie nicht trotzdem an ihrem Verstand zweifelte.
Eigentlich sollte ich doch langsam daran gewöhnt sein, dachte Lisa resigniert und wich einem Ochsenkarren aus, der fast die gesamte Straßenbreite benötigte. Er war voll mit braunen Säcken beladen. Auf dem Bock saß ein ordentlich gekleideter Bürger, der vielleicht im benachbarten Büdingen Handel treiben wollte – auch wenn die Stadt und ihre Einwohner in keinem guten Ruf standen.
Aber kann man sich an so etwas überhaupt gewöhnen?, führte sie den Gedanken fort, indem sie über einen dampfenden Fladen stieg, den einer der Ochsen auf der gepflasterten Straße zurückgelassen hatte. Drei Mal war sie bereits zuvor auf ihr unbekannten Pfaden durch die Zeit gereist, hatte über 200 Jahre überbrückt. Beim ersten Mal war sie im Jahr 1792 aufgetaucht, war Zeuge von Mord, Verrat und einer Hinrichtung geworden, hatte sich verliebt – nein, an Doktor Jonas Faust wollte sie nun gerade nicht denken. Beim zweiten Mal hatte sie, wieder unfreiwillig, die Heimreise in ihre Zeit angetreten. Beim dritten Mal, 16 Jahre später, hatte es sie erneut in die Vergangenheit v