1. KAPITEL
Dieser Schneesturm war ein Albtraum!
Hannah spähte durch die gesprungene Windschutzscheibe ihres alten Golfs und versuchte, durch die wirbelnden Flocken hindurch das Ortsschild zu erkennen. „Valley Green“ ließ sich noch entziffern, die übrigen Buchstaben waren zugeschneit.
Sie hasste diesen Wagen, den Schnee und die Gegend. Kein zivilisierter Mensch lebte in North Dakota. Und sie hasste es, sich Hannah Nelson nennen zu müssen.
Sie hatte schon gewusst, warum sie nicht hierher wollte! Aber aller Protest hatte nichts geholfen. Ihr Vater war unerbittlich geblieben.
In dem Schneegestöber wurde eine Abzweigung sichtbar. Hannah trat auf die Bremse. Der Wagen geriet ins Schlittern und rutschte auf den Graben zu.
Hannahs Herz begann zu rasen. Nicht das noch! Nicht in dieser Wildnis, Tausende von Kilometern von jeglicher Zivilisation entfernt!
Endlich fanden die abgefahrenen Reifen des Golfs Halt, und der Wagen blieb vor der Kreuzung stehen. Das musste die Abzweigung zur Lone-Oak-Ranch sein, dem Ziel ihrer unerwünschten Reise.
Stirnrunzelnd starrte sie auf den Highway hinter sich. Schmale Schneewehen schlängelten sich über die Straße. Hannah fröstelte und wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte nach Hause zurückfahren.
Schließlich war das alles nicht ihre Schuld. Trotzdem wäre wohl alles nur halb so schlimm geworden, wenn sie sich entschuldigt hätte.
Aber solange sie noch einen Funken Stolz besaß, würde sie sich nicht bei dem Mann entschuldigen, der Lucky Lindy hieß. Sie hatte ihn eine fette Kröte genannt. Sie würde sich nicht davon einschüchtern lassen, dass er mit Männern verkehrte, die sich Eddie das Messer und Mugsy der Zweizeh nannten. Sie würde sich nicht von solchen Kerlen umbringen lassen, nur weil sie deren Boss beleidigt hatte.
Hannah unterdrückte die Tränen und umklammerte das Lenkrad. Sie trat aufs Gaspedal – und würgte den Motor ab.
Zorn flammte in ihr auf. Doch es war niemand da, auf den sie die Schuld hätte schieben können, niemand, der sich von ihren Tränen beeindrucken ließe. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als den Wagen erneut zu starten. Der Motor flackerte müde auf und verstummte.
Hannah zwang sich, nicht in Panik zu geraten, und versuchte es noch einmal. Der Motor sprang an, tuckerte und – startete wunderbarerweise.
Die Straße war glatt und kaum zu erkennen, aber ihr Vater hatte behauptet, die Lone-Oak-Ranch könne man nicht verfehlen. Es sei ein großer, ertragreicher Besitz.
Hannah beugte sich übers Lenkrad. Zur Linken fiel ihr eine Einfahrt auf. Doch es waren weder ein großes Haus noch besonders weitläufige Stallungen zu sehen.
Deshalb fuhr Hannah weiter. Nach einigen Metern jedoch war sie überzeugt, dass sie sich verfahren hatte, und machte kehrt. Schließlich tauchte die Einfahrt wieder auf, diesmal auf der rechten Seite. Das Haus war jetzt deutlicher zu sehen. Ein altes zweistöckiges Gebäude, mit schmalen Schindeln gedeckt und einer weißen Fassade, von der die Farbe abblätterte.
Hannah hielt an, und als sie ausstieg, drückte ein Windstoß sie zurück. Schneematsch rann ihr in die neuen teuren knöchelhohen Lederstiefel, die ihr der Verkäufer als perfekte Ausrüstung für eine Geländewanderung angepriesen hatte.
Hannah warf einen finsteren Blick auf die Stiefel, zog sie aus dem Matsch und entdeckte im selben Moment einen Mann, der durch das Schneegestöber kam. Den Rand seines Filzhutes hatte er tief in die Stirn gezogen. Auf den Armen trug er ein Kalb, das er an sich gedrückt hielt, als wäre es ein kleines Kind.
„Da sind Sie ja“, stellte er fest und ging an ihr vorbei, die Stufen der Veranda hinauf. „Ich habe Sie schon erwartet. Können Sie mal die Tür aufhalten?“
„Was?“, fragte Hannah verwirrt.
Er deutete mit dem Kopf zum Eingang und verlagerte das Gewicht des Kalbes. „Die Tür.“
Offenbar sind die Einheimischen ein wenig begriffsstutzig, dachte Hannah und folgte ihm mit finsterem Blick auf die Veranda. „Ich hoffe nur, Sie wissen, dass Sie ein Kalb auf den Armen haben“, bemerkte sie.
Der Cowboy blickte auf das Jungtier, als wäre er überrascht, es vor sich zu sehen. Dann grinste er. „Dad meinte, Sie seien ein kluges Kind.“
Hannah starrte ihn einen Moment lang verständnislos an. Sie war seit vier Tagen unterwegs, ihr brummte der Schädel, und sie hasste Männer, die sich für amüsant hielten.
„Wie kommen Sie auf die Idee, dass Sie mich kennen?“
„Sie sind wegen des Jobs gekommen, nicht wahr?“, fragte er und hantierte an der Tür herum.
Sie lächelte und warf ihm einen nachsichtigen Blick zu. „Leider nicht. Ich habe nur angehalten, um nach dem Weg zu fragen.“
Der Cowboy ging ins Haus. Die kleinen Hufe des Kalbs stießen gegen den Türrahmen.
„Kommen Sie herein und machen Sie die Tür zu.“
Hannahs Lächeln verschwand. „Ich habe