Prolog
1934
Ein weiterer strahlender Frühlingstag bahnte sich an, schon der siebte in einer Reihe ungewöhnlich warmer Tage für Mitte April. Das frische Grün, gesprenkelt mit Löwenzahn in sattem Gelb, hatte sich über Nacht der Wiesen bemächtigt, als hätte es nie einen Winter mit modrigem, abgestorbenem Gras gegeben. Michael Weißmann stieg von seinem Fahrrad und ließ den Blick über die verschwenderisch ausgestattete Natur gleiten. Waren nicht gestern noch braune Flecken in den grünenden Feldern zu sehen gewesen? Er mochte dieser brachialen Wucht neuen Werdens nicht so ganz trauen. Fast spürte er schon den Reif, der in die Blüten fallen und sie morgen die Köpfe hängen lassen konnte.
Er schüttelte den Kopf über seine Gedanken.Carpe diem, befahl er sich. Heute war heute – ein fast überirdisch schöner Tag, kein noch so winziges Wölkchen am Himmel, nur strahlendes Blau.
Das schmiedeeiserne Tor vor der Ulmenallee, die zum Eingang des Herrenhauses führte, stand offen. Die Sonne musste auch den Gärtner schon früh aus dem Haus gelockt haben.
Die Ulmen zeigten erste Knospen, vorsichtig, wie es Michael schien, als wollten sie noch abwarten. Er erinnerte sich, dass ihr Laubwerk im vergangenen Sommer frühzeitig verdorrt war und wünschte, dass sie in diesem Jahr von dieser rätselhaften Krankheit verschont blieben.
Er schob sein Fahrrad über den Weg, widerspenstig knirschte der Kies unter seinen Schritten. Neben dem Weg entdeckte er einen kleinen Haufen Löwenzahn, den der Gärtner bereits ausgestochen hatte. Der Rasen, der sich in makellosem Grün präsentierte, machte ihn auf eigentümliche Weise traurig. Wie viel lebendiger hatten die Wiesen vor dem Tor gewirkt, wo keine regulierende Hand eingegriffen hatte, um das Unkraut auszumerzen.
Ihn erschreckte die Willkür, die hinter dieser vermeintlichen Ordnung stand. Wer konnte sich anmaßen zu entscheiden, wie Ordnung auszusehen hatte?
Vor dem Haus polierte Wilhelm, der Chauffeur des Barons, die Lampen des roten Automobils, die ihn wie die Augen eines überdimensionalen Käfers anschauten. Wilhelm nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Als er Michael sah, hob er die Hand zu einem stummen Morgengruß.
Vor dem blühenden Kirschbaum blieb er stehen. Hummeln und Bienen summten um ihn herum und unter seinen ausladenden Zweigen wetteiferten die frisch lackierten Gartenmöbel mit den Blüten um das strahlendere Weiß. Die schwelgerische Blütenpracht an den dunklen, knorrigen Ästen erinnerte an die Malerei einer chinesischen Lackschachtel, die er im Salon der Baronin gesehen und für kitschig befunden hatte. Das Bild, das sich ihm bot, war allerdings echt, und er konnte sich nicht mit dem Verweis auf Kitsch an seinen Gefühlen vorbeimogeln. Michael überlegte, was wohl bei seinen beiden Schülern Karl und Eugen herauskäme, würde er ihnen die Aufgabe stellen, diesen Baum zu beschreiben.
Aus einem offenen Fenster im ersten Stock drang Klaviermusik. Michael erkannte das kraftvolle und dennoch sensible Spiel der Baronin und lauschte der Musik von Mozarts Zauberflöte. Ihr Spiel brach ab und Michael hoffte einen Augenblick, dass sie aus dem Fenster sehen würde. Die Luft schien zu vibrieren, und er stellte fest, dass seine Jacke viel zu warm war. Er zog sie aus und schlug die Manschetten seines weißen Hemdes zurück. Wilde Hoffnung erfüllte ihn, der Wunsch, das pralle Leben, das sich ihm von überall her aufdrängte, zu ergreifen. Ihm folgte augenblicklich ein scharf konturierter Schmerz, der aus dem Bewusstsein der Unmöglichkeit entsprang.
<