: Terry Eagleton
: Kultur
: Ullstein
: 9783843716376
: 1
: CHF 15.20
:
: Philosophie: Antike bis Gegenwart
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der »unkultivierten« Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.

Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy. Der international gefeierte Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker hat über 50 Bücher verfasst. Auf Deutsch liegen u.a. vor Der Sinn des Lebens (2008), Das Böse (2011), Warum Marx recht hat (2012) und Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch (2016).

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Postmoderne Vorurteile

Für postmoderne Denker ist die Entwicklung einer Vielzahl von Kulturen Tatsache und Wert zugleich. Danach ist die Existenz verschiedenartiger Lebensweisen – von Schwulenkultur über Karaoke-Kultur, Sikh-Kultur, Burlesque-Kultur bis hin zu Hell’s-Angels-Kultur – an sich ein beglückendes Phänomen. Das ist sicherlich ein Irrglaube. Tatsächlich ist diese Auffassung typisch für die Heuchelei, mit der dieses Thema heute behandelt wird. Einerseits ist Vielfalt durchaus mit Hierarchie zu vereinbaren, andererseits steht keineswegs fest, dass die Hell’s-Angels-Kultur vorbehaltlos zu begrüßen ist. Jedenfalls ist Vielfalt kein Wert an sich. Es versteht sich nicht von selbst, dass50 Stück von irgendetwas besser sind als eines. Ganz sicher gilt das nicht für neofaschistische Parteien. Niemand braucht6000 verschiedene Marken Müsli. Es mag unlogisch klingen, dass wir nur ein Kartellamt haben, aber mehr wären verwirrend.400 verschiedene Pseudonyme zu haben ist vermutlich keine gute Idee. Wir können nicht mehr als eine biologische Mutter und ein Paar Ohren haben. Doch das ist kein Mangel, geschweige denn eine Tragödie. Eine große Vielfalt von Ehepartnern zu haben dürfte gelegentlich das eine oder andere Problem aufwerfen. Auch ist nicht viel Gutes von einer reichen Auswahl an Autokraten zu erwarten. Es gibt Zeiten, da brauchen wir keine Vielfalt, sondern Solidarität. Nicht Vielfalt zwang das Apartheid-System in Südafrika in die Knie, und nicht Pluralität stürzte die neostalinistischen Regime in Osteuropa. Natürlich ist nicht jede Solidarität unterstützenswert. Aber dass sich die Postmoderne so wenig für diese Idee begeistern kann und zudem in unausgegorener Weise annimmt, alle Formen von Einheit seien »essentialistisch«, ist ein deutliches Erkennungszeichen für ihren postrevolutionären Charakter. Ethnisch betrachtet ist Vielfalt ein positiver Wert, aber das sollte uns nicht dazu verführen, ihre Rolle in der konsumistischen Ideologie zu übersehen.

Die postmodernen Pluralitätsapostel wären gut beraten, pluralistisch mit dem Begriff umzugehen. Sie sollten das formalistische Dogma aufgeben, nach dem Pluralität unabhängig von ihrem tatsächlichen Inhalt immer und überall zu preisen sei. Etwas pragmatischer gestimmt, würden sie vielleicht merken, dass Unterschied und Vielfalt manchmal von Vorteil sind und manchmal nicht. Ein amerikanischer Vertreter der Postmoderne schrieb vor einigen Jahren von der Notwendigkeit, soziale Klassen zu diversifizieren, als wäre es ein unbezweifelbarer Gewinn, eine weitere Adelsgruppierung zu haben, die noch ein paar Tausend Hektar mehr an Grund und Boden besäße. Für solche Denker wäre es zweifellos ein großer Fortschritt, wenn sie etwas vielfältiger mit der Vielfalt umgingen und anerkennen würden, dass Differenz von einem Kontext zum anderen differieren kann. Sie könnten auch etwas weniger absolut mit dem Begriff des Andersseins umgehen, den die meisten von ihnen vorbehaltlos bejahen. Einige Formen des Andersseins sind zu begrüßen, andere (beispielsweise eine marodierende Bande von Drogendealern, die in Ihre Sozialbausiedlung eindringt) dagegen nicht. Es ist nicht im mindesten irrational, gelegentlich Furcht vor dem anderen zu haben. Vielleicht muss man erst einmal feststellen