: Stefan Zweig
: Zeiten und Schicksale Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902-1942
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104002118
: Gesammelte Werke in Einzelbänden
: 1
: CHF 4.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 576
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Stefan Zweig wollte mit seinen Essays und Vorträgen, »ohne aktuell zu polemisieren... durch ein Symbol vieles Heutige deutlich und verständlich« machen. Den Schlussstein seines biographisch-essayistischen Werkes versuchte er noch in den letzten Wochen seines Lebens zu setzen, mit seiner Studie über Montaigne, den »homme libre«, den »Vorkämpfer für innere Freiheit« - stellvertretend als einen Dank für alle seine geistigen Vorbilder in hellen wie in dunklen Zeiten.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

IZeit und Welt


Die indische Gefahr für England


(Anläßlich der politischen Mordtat eines jungen Hindu)
1909

Die vier Revolverschüsse, mit denen ein junger Hindu, Madar Lal Dhingra aus Amritsar, an einem Festabend in London den Aide-de-Camp [den persönlichen Adjutanten] des Vizekönigs von Indien, Sir William Curzon Wyllie, ermordete, haben die ganze englische Nation aufgeschreckt. Vergessen ist für einen Augenblick die Germanophobie über der alten lastenden Gefahr, die einen so entschlossenen Boten gesandt hat. Und ängstlich horchen nun alle nach Osten, ob von dem fernen Riesenreiche grollendes, gefährliches Echo käme, das langgefürchtete Gewitter: der Aufstand Indiens. Oder ob dies nur die vereinzelte Tat eines überreizten Fanatikers war, ein bedeutungsloses Wetterleuchten am politischen Himmelsrand. Es ist verlockend und gefährlich, über diese Möglichkeiten zu reden. Verlockend vor allem: denn das Blatt der Geschichte, auf dem die Befreiung Indiens von den Engländern geschrieben sein wird, muß ebenso grandios, erregend und überraschungsvoll sein wie jenes andere – bei uns viel zu selten aufgeschlagene – der Eroberung eines solchen Riesenreiches durch eine Handvoll Kaufleute und einen genialen Konquistador. Aber gefährlich zugleich. Denn zu tief sind die Kräfte verborgen, zu unübersichtlich die Dimensionen, zu unsicher die Quellen, zu tendenziös verkleinert oder vergrößert die Symptome. Eine Reise ins Land und selbst vielfältiges Gespräch mit den Beamten der Regierung gibt bestenfalls einen Einblick ins Gegenwärtige: und dies schon ist in Indien pittoresk und großartig genug, um die Phantasie auf das höchste anzuspannen. Denn das Imperium der Engländer in Indien ist einer der grandiosesten Versuche, durch geistige Gewalt, nationale Geschlossenheit und moralische Suprematie [Überordnung] einen gigantischen Widerstand zu paralysieren: grandios wie jeder Kampf gegen ein Unmögliches, aufreizend wie jede tödliche Gefahr.

Sowenig man vom heutigen Indien weiß: dies ist bekannt, daß 200 000 Europäer, oder eigentlich ein Bruchteil dieser Summe, daß 70 000 englische Soldaten 300 oder 400 Millionen einheimischer Bevölkerung niederhalten. Nackte Zahlen als Ausdruck eines realen Verhältnisses sind präzise, aber nicht plastisch. Das Vorstellungsvermögen kann sich 70 000 Menschen noch in einer Vision veranschaulichen: das grüne Parkett unseres Schönbrunn vermag so viel zu fassen. Aber die unsägliche Winzigkeit dieser Anzahl gegenüber den Hunderten Millionen läßt sich nicht mehr ausdenken. Dieser Tropfen, in den Blutorganismus des indischen Reiches eingemischt, zerfließt, ohne den Farbton zu ändern. Und doch – dies ist das Undenkbare für den Fernen – diese Wenigen geben dem heutigen Indien die Signatur. Das Schiff, das in den Hafen von Bombay steuert oder den niederen Hooghly hinauf nach Kalkutta, sieht zuerst hohe Kathedralen, stattliche Bauten im englisch-gotischen Stil, Docks wie in Glasgow und Liverpool: die Front, die Stirne, der erste Eindruck gegen die Ferne ist England. Und dann im Lande selbst wächst das unwahrscheinliche Verhältnis ins Grenzenlose. Da sind Städte von 100 000, 200 000 Einwohnern mit fün