Sommer1912
An dem Bahnhof in Wien erwartete sie ihr Bruder. Noch ehe sie ihn recht umarmt, fragte sie ihn schon: »Was ist mit Papa?« Eduard zögerte. »Er hat mit mir noch nicht gesprochen, ich glaube, er wartet, bis du kommst. Aber ich kann mir’s eigentlich schon denken. Ich fürchte, er hat den blauen Bogen bekommen.« »Den blauen Bogen?« Clarissa starrte den Bruder, ohne zu verstehen, an. »Ja, so heißt’s einmal bei uns, wenn einer in Pension geschickt wird. Ich habe schon lange so etwas munkeln gehört. Daß er ihnen unbequem im Ministerium oder im Generalstab war, ist schließlich kein Geheimnis seit jenem Angriff in der Armeezeitung gegen sein Buch, der zweifellos von oben her inspiriert war. Schon im Vorjahr wollten sie ihn abschieben, als Generalinspektor nach Bosnien, aber er hat sich geweigert. So haben sie ihn einfach abgesägt. Bei uns mag man die Leute nicht, die sich kein Blatt vor den Mund nehmen. Ob einer was ist oder was kann, ist denen Nebensache. Kuschen muß er können oder intrigieren, sonst stellen sie ihm ein Bein.« Unwillkürlich kam ein harter Zug um sein sonst so offen-heiteres Knabengesicht, für eine Sekunde sah er plötzlich seinem Vater ähnlich. »Aber schwatzen wir jetzt nicht lang. Er wartet auf uns. Leicht wird’s ihm nicht sein. Komm!«
Er nahm der Schwester den Koffer aus der zitternden Hand. Beide schwiegen, während sie durch die Bahnhofshalle gingen. Sie vermochte ihre Gedanken noch nicht zu sammeln. Die Vorstellung ihres Vaters war ihr so verbunden mit Macht und glänzender Uniform, daß ihr unfaßbar war, irgend jemand könnte ihm das nehmen; nichts hatte jemals diesen Glanz, der von ihm ausging; er hatte ihre Kindheit überleuchtet, obwohl sie sein Gesicht nicht kannte. Er war ihr Stolz gewesen. Sie vermochte nicht zu fassen, daß er wie ein anderer gehen sollte, im grauen Anzug ohne diesen Schimmer von Farbe und Glanz um sich, er, den niemand kannte ohne den goldenen Kragen. Erst als der Wagen schon der Spiegelgasse zurollte, fragte sie mit zaghafter Stimme noch einmal: »Bist du sicher, Eduard?« »Soviel wie gewiß«, antwortete er, indem er zum Fenster wegblickte, um seine Erregung zu verbergen. »Und sicher ist, daß wir alles tun müssen, was er wünscht oder verlangt. Wir dürfen’s ihm nicht noch schwerer machen.«
In der einfachen Dreizimmerwohnung im vierten Stock – Schuhmeister hatte immer spartanisch bescheiden trotz seiner hohen Stellung gelebt – öffnete ihnen der Offiziersbursche; auch er schien merklich bedrückt, als er meldete, der Herr Oberstleutnant erwarte sie in seinem Arbeitszimmer. Als die beiden eintraten, stand ihr Vater vom Schreibtisch auf, legte den Zwicker, den er in den letzten Jahren wegen seiner zunehmenden Weitsichtigkeit benötigte, hastig ab und ging auf Clarissa zu. Er küßte sie wie immer auf die Stirne. Aber ihr war, als ob er diesmal weicher und fester zugleich sie an sich zog, als wollte er sich an ihr halten. »Geht es dir gut?« fragte er dann knapp. »Jawohl, Papa«, antwortete sie hastig, da bei der letzten Silbe der Atem ihr nicht mehr ganz gehorchte. »Setzt euch«, sagte er befehlend, auf die beiden Fauteuils weisend, während er zu dem Schreibtisch zurückging, und gütiger zu seinem Sohn: »Du kannst eine Zigarette rauchen. Genier dich nicht.« Es war ganz still. Man hörte durch das geöffnete Fenster, wie von der Michaelerkirche die Turmuhr elf schlug; alle drei waren militärisch pünktlich gewesen.
Der Oberstleutnant hatte neuerdings den Zwicker aufgesetzt und schichtete ein paar beschriebene Bogen, die vor ihm lagen, etwas nervös zusammen. Seiner Unsicherheit in der freien Rede bewußt, h