1.
EUROPÄISCHE ODER
WESTLICHE WERTE?
Zu den Schlagworten unserer Zeit gehören die «Werte Europas» oder die «europäischen Werte», auf die wir uns nicht nur in feierlicher Rede so gern berufen. Doch der Begriff verdient es, hinterfragt zu werden. Denn im geographischen Sinn hat Europa nie eine Wertegemeinschaft gebildet. Anders steht es um den konkurrierenden Begriff «westliche Werte». Den Unterschied mag ein Zitat des Wiener Historikers Gerald Stourzh verdeutlichen: «Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber Europa geht auch über den Westen hinaus.»[1]
Der Westen: Das ist zunächst einmal jener Teil Europas, der im Mittelalter (und in manchen Ländern lange darüber hinaus) sein geistliches Zentrum in Rom hatte, also zur Westkirche gehörte. Nur dieser Teil Europas hatte die beiden vormodernen Formen der Gewaltenteilung, die ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt sowie die von fürstlicher und ständischer Gewalt erlebt. Um die erste der beiden Unterscheidungen ging es im Investiturstreit in der zweiten Hälfte des 11. und dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts: einem Konflikt zwischen dem römischen Reformpapsttum auf der einen, den fränkisch-salischen Kaisern und den Königen von Frankreich und England auf der anderen Seite, bei dem vordergründig um das Recht der Einsetzung von Bischöfen und Äbten in ihre Ämter, letztlich aber um nichts Geringeres als das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt gestritten wurde.
Am Ende standen historische Kompromisse in Gestalt von Vereinbarungen zwischen der Kurie und den gekrönten Häuptern, darunter dem Wormser Konkordat, das 1122 zwischen den Legaten von Papst Calixt II. und Kaiser Heinrich V. abgeschlossen wurde. Keiner Seite war es gelungen, die andere zu unterwerfen. Die Kirche konnte sich aus ihrer Abhängigkeit vom deutschen König- und Kaisertum befreien, während die weltlichen Gewalten ihre Handlungsspielräume zu behaupten und langfristig zu erweitern vermochten.
Das symbolische Datum der zweiten mittelalterlichen Gewaltenteilung, der Ausdifferenzierung von fürstlicher und ständischer Gewalt, ist der 15. Juni 1215: der Tag, an dem auf der Wiese Runnymede an der Themse der englische König Johann «Ohneland», politisch geschwächt durch eine Niederlage, die ihm im Jahr zuvor die Franzosen in der Schlacht von Bouvines zugefügt hatten, den aufständischen Baronen in der Magna Charta Libertatum Rechte zugestehen musste, die seiner Macht Fesseln anlegten. Der König war fortan an das Recht gebunden; er durfte ohne Zustimmung eines Ausschusses der Kronvasallen, der als Vertretung des ganzen Landes galt, keine Abgaben erheben; kein freier Mann durfte gefangen genommen oder um seinen Besitz gebracht werden, wenn nicht ein Gericht aus Standesgenossen oder das Gesetz des Landes dies erlaubte.
Die Magna Charta bedeutete nicht das Ende des Machtkampfes zwischen dem König und seinen Vasallen. Aber hundert Jahre später stand fest, dass der niedere Adel, die «gentry», und das städtische Bürgertum den größten Nutzen aus dem Konflikt gezogen hatten. Das «Parlament» (der Begriff lässt sich bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückverfolgen) war die anerkannte Vertretung des Landes. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts bildeten sich das Unterhaus als Vertretung der Grafschaften und Kommunen und das Oberhaus, in dem die Barone des Königreichs saßen, als getrennte Einrichtungen heraus, wobei die niedere Kammer schon damals über mehr Macht verfügte als die höhere.
Was 1215 in England geschah, hat sich der Nachwelt besonders eingeprägt, und das vor allem deshalb, weil die Verfassungsentwicklung nirgendwo in Europa ein derart hohes Maß an Kontinuität aufweist wie hier. Aber nicht nur auf der Westseite des Ärmelkanals bedurften Herrscher, die mit ihresgleichen um Macht und Geltung wetteiferten, eines dauerhaften Rückhalts bei denen, die im Innern des Landes über Macht und Einfluss verfügten. Und nicht nur in England konnten auch die Umworbenen ihrerseits etwas fordern: die förmliche Verbriefung ihrer Rechte und die Institutionalisierung ihres Anspruchs auf Mitsprache. Auf die eine oder andere Weise wurden solche Vereinbarungen im Verlauf des Mittelalters überall im europäischen Okzident getroffen.
Die ansatzweisen Trennungen von geistlicher und weltlicher Gewalt einerseits, von fürstlicher und ständischer Gewalt andererseits stehen nicht unverbunden nebeneinander. Der historische Kompromiss, mit dem der Investiturstreit endete, setzte die Kräfte frei, die den Westen