: Vilma Link
: Vorzimmer
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783688104284
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 124
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In «Vorzimmer» beschreibt Vilma Link mit faszinierender Genauigkeit einen Tag zwischen Schreibmaschine, Konferenzzimmer, Chefbüro und Telefon. «Ursprünglich wollte ich diesen meinen früheren Alltag nur für mich noch einmal reflektieren und ordnen, weil da vieles unbewältigt war, und dabei ist dann die Lust entstanden, dem Ganzen eine literarische Gestalt zu geben. Nur dadurch, daß ich jetzt draußen bin, ist mir die Beschreibung des Drinnen möglich geworden, und das Drinnen einer Sekretärin ist: geradezu teuflische Belohnungen für die Unterwerfung.»

Vilma Link ist 1938 in Paderborn geboren. Fünfzehn Jahre lang arbeitete sie als Sekretärin in München, danach als Übersetzerin auf dem Land.

2


Auf der Straße sah alles alltäglich aus. Nichts war anders. Die Großstadt schlug auf mich ein, Autos, Straßenbahnen, Menschen, Gestank, Lärm um mich herum wie an jedem Morgen, sie nahmen mich auf in ihre Bewegung, ich wurde Teil dieses Fließens, das nie zu enden scheint und das jeden dahinspült, wo er hingespült werden will. Ich vergaß mich sofort. Eingetaucht in dieses zielgerichtete Hasten vieler sich bewegender Körper ging ich mir verloren. Mein Körper wurde aufgesogen von diesem vielfältigen, vielförmigen, überwältigenden, gewalttätigen Körper des morgendlichen Straßenverkehrs. Eine Maschine, deren Bewegungen nie mehr zu stoppen sind. Ich lief, ich ordnete mich ein, ich blieb stehen, ich beachtete Verkehrszeichen, ich hatte ein Ziel, genau wie alle anderen Körper. Das verband uns. Alle wußten, was sie wollten. Alle wollten weg, gleich würde hier niemand mehr zu sehen sein, der sich jetzt noch hier befand. Jeder wollte woanders hin, jeder wußte von sich, wo er hinwollte, aber keiner wußte es vom anderen. Alle wollten zur Arbeit. Das war es, was uns verband. Nicht die Arbeit, die wir taten, aber der Umstand, daß wir sie tun wollten, tun mußten.

Eine große Gemeinde. Ich gehöre zu ihr. Bekannte Gesichter fremder Menschen. Die kurze Begegnung, das rasche Aufschauen reicht zum Kennen nicht. Niemand bringt mich durch Erkennen zu mir zurück. Ich bleibe verloren in dieser fließenden Menge.

Alltag ist das. Alltags der alltägliche Weg zur alltäglichen Arbeit. Arbeit ist Alltag. Alltag ist Werktag. Werktags gehen die Werktätigen zur alltäglichen Arbeit. Alltägliche Arbeit ist gewöhnlich. Kann man einen ungewöhnlichen Alltag haben. Einen ganz fremden, ungewohnten, ungewöhnlichen Alltag möchte ich haben.

Zur Straßenbahnhaltestelle hatte ich ungefähr drei Minuten zu laufen. Der Verkehrsfluß hatte dort eine Insel gebildet, angeschwemmt standen die Menschen mit alltäglichen Gesichtern und schauten auf ihre Füße, in eine Zeitung, auf den weiterfließenden Verkehr oder auf andere Wartende. Einige kannten sich, redeten miteinander, lustlos. Das Wetter war nicht so, daß es die Unlust des frühen Aufstehens, des Wartens und der Perspektive eines achtstündigen Arbeitstages verscheuchte. Ein grauer, unentschlossener Himmel hing über der Stadt und ließ nichts Gutes hoffen. An einem solchen Tag ist die Luft schwer und schon morgens erschöpft, als habe sie sich nachts nicht richtig erholen können, wie ein altes, schlaffes Gesicht. Man kann in ihr nicht leicht werden. Alles wird durch sie gewichtig und lastend, man hat darin nicht den langen Atem. Ein ehrlicher Regen wäre mir lieber gewesen.

Ich stellte mich unter die Wartenden und fing an, wie sie mit halb fremden, halb feindseligen Blicken um mich zu sehen. Ich wollte freundlich aussehen, spürte, wie mir das nicht gelang. Lächeln wäre übertrieben, würde komisch wirken, mißverstanden werden. Eine Frau auf der Straße, die keiner kennt, lächelt nicht als Mensch, sondern als Frau. Das Lächeln einer Frau auf der Straße ist eine Herausforderung. I