Die Sonne ging auf über der sonntäglich ruhigen Welt und strahlte nieder auf das friedliche Städtchen, wie ein Segen von oben. Als das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familienandacht. Sie begann mit einem Gebete, das sich ganz und gar aus festen Schichten biblischer Kraftstellen auferbaute, die nur durch einen dünnen, spärlichen Mörtel eigener Gedanken zusammengehalten wurden. Auf den Zinnen dieses stolzen Baues angelangt, krönte sie das Ganze mit einem dräuenden Kapitel des mosaischen Gesetzes, als stünde sie auf dem Berge Sinai selber.
Danach gürtete Tom seine Lenden sozusagen und ging ans Werk, sich die Bibelsprüche »einzupauken«. Sid, der Musterknabe, hatte seine Lektion schon vor mehreren Tagen gelernt. Tom warf sich mit ganzer Energie auf die Erlernung von fünf Versen und wählte dieselben aus der Bergpredigt, da er keine kürzeren finden konnte.
Nach Verlauf einer halben Stunde hatte er denn auch glücklich einen schwachen, allgemeinen Begriff von seiner Lektion, aber nichts weiter, denn seine Gedanken reisten dabei mit Blitzesschnelle durch die ganze weite, unbegrenzte Welt, die im engen Hirne schlummert, und seine Finger waren rastlos tätig in allerhand angenehmen, ablenkenden Zerstreuungen. Endlich erbarmte sich Bäschen Mary seiner und nahm das Buch, um ihn zu überhören, während er sich durch den die Sprüche verhüllenden Nebel mühsam seinen Weg zu bahnen suchte.
»Selig sind die – ä – ä –«
»Da geistig –«
»Richtig – die da geistig ä – ä –«
»Arm –«
»Arm sind. Selig sind, die da geistig arm sind, denn sie sollen – sollen –«
»Denn ihrer –«
»Ja so! Selig sind, die da geistig arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie – sie –«
»S –«
»Denn sie – ä –«
»S – o –«
»Denn sie s – s –, weiß der Kuckuck, wie das heißt!«
»Sollen!«
»Ach so – sollen! Denn sie sollen – denn sie sollen – ä – ä – sollen Leid tragen. Selig sind, die da sollen – die da sollen – a – Leid tragen, denn sie sollen – ä – sollen was? Warum hilfst du mir denn nicht, Mary, schäm dich, so schlecht zu sein und am Sonntag noch dazu!«
»O, Tom, armer, dummer, dickköpfiger Kerl, ich will dich ja nicht necken, Gott behüte. Ich mein’s nur gut mit dir. Geh und lern’s noch einmal und verlier den Mut nicht, du wirst’s schon in den Kopf kriegen und dann, Tom, dann schenk ich dir auch was Schönes! Geh und sei ein guter Junge!«
»Schon recht. Aber was ist’s, Mary, sag mir erst, was es ist.«
»Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weißt, wenn ich sag, es ist schön, so ist’s wirklich was Schönes.«
»Ja, das weiß ich. Also vorwärts, gib das Buch wieder her, Mary, wollen’s schon kriegen.«
Und er »kriegte« es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.
Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser, das mindestens eine Mark wert war unter Brüdern. Eine feine Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schon verzierten eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschnitzen war’s gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen, um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.
Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife, womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goß das Wasser aus, stülpte die Ärmel auf und kam wieder zur Küche