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W ie sehr Farim diese Stadt und das Leben darin und also auch sein eigenes Leben hasste, wurde ihm an dem Tag bewusst, als er ein Stück vergiftete Wurst in den Nachbargarten warf. Dieser kleine, permanent kläffende Köter ging ihm vom ersten Tag an auf die Nerven. Einige Jahre ertrug er es, zu seinem achtzehnten Geburtstag war dann Schluss. Jetzt war er ein Mann, und Männer handelten.
Nach außen integriert, immerhin in Duisburg geboren und in den Neunzigern noch als Baby nach Wolfsburg gezogen, als sein Vater, wie viele Tunesier, bei Volkswagen Arbeit fand. Erst wohnten sie im Westen der Stadt, in dem Teil, der später als »Ghetto« bezeichnet wurde. 7. Stock, schon bald zu viert in drei kleinen Zimmern. Die Mutter verließ nur zum Einkaufen die Wohnung, der kleine Supermarkt war praktischerweise im Erdgeschoss und die Kassiererin aus Marokko. Es hatte Jahre gedauert, ehe sie in das neue Shoppingcenter in der Innenstadt ging, natürlich nie allein. Zehn Jahre später war sein Vater Schichtleiter und fühlte sich schon so integriert, dass sie nach Reislingen in den Osten der Stadt zogen. Ein neues Wohnviertel, wie mit der VW-Promoversion von SimCity geplant: Satteldach auf geklinkerten Ein- und Mehrfamilienhäusern, die Nebenstraßen gepflastert wie Spielstraßen, Gartenzäune vorm Haus und natürlich VWs im Carport. Und kläffende Hunde im Nachbargarten.
Alle Straßen waren nach Dichterinnen, Malerinnen oder sonstigen Frauen benannt. Wohin er auf dem Weg zur Bushaltestelle auch blickte: Weiber wiesen ihm den Weg. In der Schule wurde er deswegen gehänselt. Den Lästerern hatte er gezeigt, welche Kerle in Frauenstraßen wohnten, sein rechter Haken war in der Klasse gefürchtet. Im Schlag lag auch die Scham über seinen Vater, der in diese unglaublich deutsche Siedlung gezogen war und tatsächlich glaubte, von den anderen Bewohnern akzeptiert zu werden. Schaut her, wir haben nichts gegen Ausländer, sogar unser Nachbar ist einer. Der Quoten-Muslim. Musterbeispiel für gelungene Integration. Wenn da nur nicht dieser verzogene Sohn wäre, was man so hört. Na, wenigstens die Tochter wird es schaffen. Jaja, seine kleine Schwester Ayla war die Bessere, sie war ja auch ein Wolfsburger Produkt. Geplant, gezeugt, aufgewachsen und sozialisiert wie ein Golf-Facelift.
Dabei hatte sich der Vater jahrelang von deutschen Vorarbeitern schikanieren und als »Kameltreiber« verspotten lassen, wurde bis zu ihrem Umzug nie zu den Grillfeiern der deutschen Arbeitskollegen eingeladen und traf sich bis heute regelmäßig mit der tunesischen Gemeinschaft. Dort schwärmten sich die älter werdenden, stolzen Männer gegenseitig vor, wie schön es zuhause in Tunesien sei und wann sie zurückkehren und dort ein Geschäft oder eine Werkstatt aufmachen würden.
Keiner ist je zurückgegangen.
Farims Kosmos wurde begrenzt durch vier riesige Schornsteine am Horizont, die zentrale Straße hieß natürlich Porschestraße: mit Bürgersteigen, dreimal so breit wie anderswo, gesäumt von langweiligen Dönerbuden und Cafés. Zum Shoppen ging man in das hässliche Einkaufszentrum am einen Ende der Straße, zur Flucht ans andere Ende – zum Bahnhof. Wolfsburgs Künstlichkeit und Verlogenheit wurde ihm erstmals bewusst, als er mit der Schulklasse in ein Museum nach Braunschweig gefahren war. Eine Stadt, die von Heinrich dem Löwen vor tausend Jahren gegründet wurde und nicht von einem Versager wie Adolf Hitler gerademal achtzig Jahre zuvor. Eine Stadt mit breiten und schmalen Straßen, alten, sehr alten und neuen Häusern, Klamotten¬läden für Schwule – darüber hatte er sich aufgeregt – und einem Bahnhof, der von Kiosken, Pennern und Taxen belebt wurde.
Und was für Autos dort fuhren! Die ganze Welt war dort vertreten: japanische Kleinwagen, fette BMWs, sogar einen US-Pickup mit schulterhohen Kotflügeln sah er. In Wolfsburg waren Querulanten, »Nichtintegrierte« oder »Fremde«, wie selbst Leute aus Magdeburg genannt wurden, allein dadurch erkennbar, dass sie keinen VW oder Audi fuhren oder wenigstens einen Skoda oder Seat. Der einzige Mercedes-Händler versteckte sich in einem Industriegebiet zwischen Fitnessstudio und Matratzengeschäft.
Wolfsburg war wie die Truman Show, nur ohne Zuschauer. Und die Brücke führte nach Braunschweig.
Seine Schwester fuhr einen zehn Jahre alten Polo, den er sich jedoch nie ausleihen durfte. Ein Grund, sich regelmäßig mit ihr zu streiten, aber er wäre nie mit diesem Wagen bei seinen Kumpels vorgefahren, um dann zugeben zu müssen, er gehöre der kleinen Schwester. Sie war integriert, Klassenbeste und machte eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin. Wo, musste man in dieser Stadt nicht fragen.
Die Schule hatte