: Georg Büchner
: Ariane Martin
: Lenz. Studienausgabe Büchner, Georg - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 19176
: Reclam Verlag
: 9783159607023
: Reclams Universal-Bibliothek
: 1
: CHF 3.90
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 88
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»... als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm ...« Mit seinem kurzen Erzähltext über den Sturm-und-Drang-Dichter J.M.R. Lenz, der in geistiger Umnachtung endete, gelingt Büchner ein detailliertes Psychogramm des »unglücklichen Poeten«, dessen Texte in ihrer Intensität und Expressivität in der deutschen Literatur ohne Vorbild sind. Büchners Fragment ist zweifellos eines der aufregendsten Stücke deutscher Prosa. Diese Ausgabe bietet die authentische Textfassung, die Karl Gutzkow nach der Abschrift von Büchners Braut Wilhelmine Jaeglé 1839 erstmals publizierte, sowie die in Büchners poetischem Verfahren so bedeutsamen Quellentexte, allen voran die Erstdruckfassung des Berichts, den der Pfarrer Oberlin unmittelbar nach Lenz' Aufenthalt im elsässischen Steintal abfasste.

Georg Büchner (17.10.1813 Goddelau bei Darmstadt - 19.2.1837 Zürich) beschäftigte sich bereits während seines Studiums der Medizin mit Geschichte und Philosophie und fand zum politischen Engagement, das u. a. zur Gründung von Sektionen der geheimen Gesellschaft für Menschenrechte führte. Ein Jahr später zwang ihn die von ihm verfasste Flugschrift 'Der Hessische Landbote', in der Büchner die Landbevölkerung zur Auflehnung gegen die Oberschicht aufrief, zur Flucht. Zu seinen bekanntesten Werken zählen 'Dantons Tod', das das Thema der Französischen Revolution aufnimmt, sowie das Lustspiel 'Leonce und Lena' und das unvollendete Drama 'Woyzeck'.

[7] »Lenz«


Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in diefeuchte Luft. Am Himmel zogengraue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nichtauf dem Kopf gehn konnte. Anfangsdrängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können.Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf dampfte, und dieStimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und seinblitzendes Schwert an den Schneeflächen[8] zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß, und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie einWiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Roth hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen und alle Berggipfel scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten,riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend,den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe that; oder er stand still und legte das Haupt in’s Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie einwandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Fluth unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre einSchattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wußte v