: Ralf Kellermann
: Gedichte analysieren und interpretieren [Kompaktwissen XL] - Kellermann, Ralf - sicher durch Abitur und Matura; Oberstufenwissen - 15234
: Reclam Verlag
: 9783159612577
: Kompaktwissen XL
: 1
: CHF 7.00
:
: Sekundarstufe II
: German
: 140
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie interpretiert man ein Gedicht? - Schülerinnen und Schülern fällt der Zugang zur Lyrik oft schwer. Als Lehrer kennt Ralf Kellermann die Tücken der Gedichtinterpretation nicht nur genau, sondern weiß zugleich, wie man diesen erfolgreich begegnet: Ausgehend von der besonderen Kommunikationsstruktur des Gedichts führt er Schritt um Schritt und anhand vieler Beispiele in die lyrische Formensprache ein (Metrum, Reim, Stilfiguren etc.), skizziert wichtiges Epochenwissen und stellt unterschiedliche Typen der Gedichtinterpretation vor. Merk- und Infoboxen bieten prägnante Zusammenfassungen und konkrete Hilfestellungen für Klassenarbeit, Klausur und Abitur.Für die Sekundarstufe II geeignet.

Ralf Kellermann ist Lehrer (OStR) für Deutsch, Englisch und Ethik/Philosophie an einem Gymnasium in Ludwigsburg und war zudem Lehrbeauftragter an der dortigen Pädagogischen Hochschule.

2. Begriffsklärungen: Gedicht – Analyse – Interpretation


2.1 Was ist ein Gedicht? Vorurteile und Besonderheiten


Die Frage, was genau einGedicht ist, erscheint nur auf den ersten Blick einfach. Tatsächlich ist sie so schwer zu beantworten, dass auch die Wissenschaft an dieser Stelle noch lebhaft diskutiert. Nun kann einem die Definition eines Gedichts in einer Klausur zunächst relativ gleichgültig sein. Typischerweise heißt es in der Aufgabenstellung ja nicht »Entscheiden Sie, welcher der drei Texte ein Gedicht ist, und begründen Sie Ihre Entscheidung«, sondern einfach: »Interpretieren Sie das Gedicht«. Wichtig ist die begriffliche Bestimmung aber insofern, als über Gedichte viele Vorurteile im Umlauf sind, die eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Text behindern. Das betrifft zunächst Vorbehalte gegenüber der Lyrik überhaupt: so zum Beispiel die Idee, dass Gedichte sich grundsätzlich durch krause oder unklareGedanken und eine künstlich verdunkelte Sprache auszeichnen und darum prinzipiell unverständlich seien. Nichts für klare Denker also. So als ginge es in der Lyrik eher um ein wichtigtuerisches Geraune, das man nicht verstehen, sondern allenfalls bewundern und anbeten könne. In seiner Wirkung ist dieses Vorurteil verwandt mit dem, dass es in Gedichten immer umGefühle gehe, über die man als rational orientierter Mensch eigentlich nicht sinnvoll sprechen könne. Diese beiden Vorurteile sind deshalb so problematisch, weil sie nahelegen, dass man als vernünftiger Schüler eine Gedichtinterpretation am besten gar nicht beginnen sollte. Oder, wenn man in einer Klausur dazu gezwungen wird, keine ordentlichen Ergebnisse produzieren könne. Daneben gibt es auch Vorstellungen, die die Durchführung einer Gedichtinterpretation zwar nicht grundsätzlich, jedoch im Einzelnen behindern: so zum Beispiel die Idee, dass Gedichte unmittelbarer Ausdruck des seelischen Innenlebens des Autors seien. Was insofern eine wenig hilfreiche Unterstellung ist, als so der Eindruck entsteht, dass es bei der Gedichtinterpretation gar nicht so sehr auf das Gedicht als Text ankomme, sondern auf die zu ergründende Psyche des Dichters. Als ob Dichter nicht vor allem darum interessant wären, weil sie interessante Gedichte geschrieben haben. Die hier genannten Vorstellungen von Gedichten sind zwar nicht vollkommen falsch, sie erweisen sich aber als wenig hilfreich für die Interpretation.

Ja, Gedichte sind oft etwas schwerer zu verstehen als andere Textformen. Das liegt aber in aller Regel nicht daran, dass hier unnötig verworren oder »dunkel« gesprochen wird, sondern dass hier jedes sprachliche Detail bedeutsam ist, dass der Sinn hier besonders konzentriert und auch in diesem Sinne »verdichtet« erscheint. Gedichte illustrieren sehr anschaulich eine Eigenschaft, die der amerikanische Dichter Ezra Pound (18851972) ganz allgemein zum Merkmal der »großen Literatur« erklärte, nämlich: dass sie »in größtmöglichem Maße mit Sinn aufgeladen sei« (»charged with meaning to the utmost possible degree«). Wenn Gedichte schwer verständlich erscheinen, dann nicht, weil sie besonders chaotisch sind, sondern weil sie eine besonders komplizierte Ordnung aufweisen.