PROLOG
Im Prophetenzimmer oder
Die große Entscheidung
»Prophecy Chamber«, Prophetenkammer, heißt das Gästezimmer desUnion Theological Seminary in New York. Am 13. Juni 1939 zieht der deutsche Theologe und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer hier ein. Dietrich kennt das Seminar und die Stadt. Er war vor neun Jahren schon einmal hier gewesen, als blutjunger Stipendiat, der Land und Leute kennenlernen wollte. Sein jetziger Besuch steht unter ganz anderen Vorzeichen. Er musste aus Deutschland fliehen. Sein Jahrgang soll eingezogen werden. Als Soldat müsste er einen Eid auf Adolf Hitler ablegen und wäre gezwungen, mit der Waffe in den Krieg zu ziehen. Als Christ ist das für ihn ausgeschlossen. Verweigerern droht das Konzentrationslager oder sogar der Tod.
Dietrich hatte Glück gehabt. Sein Vater, ein anerkannter Professor für Psychiatrie, hat seine Verbindungen genutzt, um Dietrichs Musterung zu verschieben. Freunde in Amerika haben alles getan, um ihn aus Deutschland herauszuholen. Sie gehen nun fest davon aus, dass Dietrich in den USA bleibt. Hier ist er in Sicherheit. Doch schon auf der Schiffsreise war er unsicher, ob seine Flucht richtig war. »Wenn nur die Zweifel am eigenen Weg überwunden wären«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben.1
Die Zweifel lassen sich nicht vertreiben. Auch nicht, als der Präsident desUnion Theological Seminary, Henry Coffin, ihn in sein Landhaus in Massachusetts einlädt. Coffin fühlt sich durch den Besuch geehrt. Trotz seiner Jugend gilt der dreiunddreißigjährige Bonhoeffer als einer der bedeutendsten deutschen Theologen und als ein führender Kopf der kirchlichen Opposition gegen Hitler. Diese Gegenkirche, die sogenannte Bekennende Kirche, ist immer mehr unter politischen Druck geraten und viele ihrer Anhänger sitzen im Gefängnis oder im KZ. Dietrich genießt die Gespräche mit Coffin und er ist begeistert von der landschaftlichen Schönheit, aber er hat das Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein. Ein Jahr will er bleiben, länger nicht. »Ich begreife nicht, warum ich hier bin«, schreibt er.2
Seine Gedanken sind bei seinen Freunden in Deutschland. In einem abgelegenen Gutshof bei Stettin hatten sie eine Gemeinschaft gebildet. Dietrich war ihr Lehrer. Er sollte sie auf ihren Beruf als Pfarrer vorbereiten. Aber er war auch ihr »Bruder«. Zusammen wollten sie eine christliche Gemeinschaft bilden. Nur auf diese Weise, das ist Dietrichs feste Überzeugung, gewinnt man die innere Stärke, an seinem Glauben festzuhalten und in einem Unrechtsstaat Widerstand zu leisten. Das illegale Seminar wurde im Juni 1938 von der Geheimen Staatspolizei geschlossen. Dietrich und seine Freunde haben sich nicht entmutigen lassen und im Untergrund weitergemacht. Jetzt müssen seine Gefährten ohne ihn zurechtkommen. Dauernd muss er daran denken, was aus den jungen Männern wird, die sich ihm anvertraut haben und ihm gefolgt waren. Wird man sie verhaften? Werden sie als Soldaten in den Krieg geschickt, der unvermeidlich scheint? Trägt er, Dietrich, Schuld an ihrem Schicksal?
Viele von Dietrichs Weggefährten haben sich auf Kompromisse mit dem Staat eingelassen. Er selbst blieb unbeugsam. Oder war es nur Rechthaberei, dass er so stur war? Haben jene recht, die ihn für einen arroganten Besserwisser halten oder