1. KAPITEL
Die Sonne stand jetzt so tief, dass ihre Strahlen mit blendender Helligkeit durch die offenen Verandafenster hereindrangen. Miss Serena Calvert erhob sich, um die Vorhänge zu schließen. Unwillkürlich seufzte sie auf. Es war ein heißer Tag, und der Wind, der von der See her wehte, hatte wenigstens ein bisschen kühle Luft gebracht.
Miss Calvert ging zu ihrem Sessel zurück und schaute ihre Besucherin fragend an. „Was halten Sie von meinem Plan, Lady P?“
Es gab nur wenige Menschen auf der Insel, die es sich erlauben durften, die Gattin des Gouverneurs so anzureden. Miss Serena Calvert, eine Cardoman Calvert of Anse Chatelet, gehörte zu ihnen. Sie kannte Lady Pendomer seit Jahren und konnte sich zu ihren engsten Freundinnen zählen.
Lady Pendomer, die im allgemeinen Fröhlichkeit und Optimismus ausstrahlte, wirkte ungewöhnlich ernst. „Sie werden Ihre Idee fallen lassen müssen, Serena“, sagte sie mit fester Stimme. „Sie scheinen sich keine Vorstellung davon zu machen, wie teuer es ist, eine Saison in London zu verleben. Ich muss Ihnen gestehen, dass England selbst für uns beinahe unerschwinglich war. Es tut mir leid, so offen zu Ihnen sprechen zu müssen, doch ich weiß genau, dass Sie nicht über die notwendigen Mittel verfügen.“
Miss Calvert hob kampflustig das Kinn.
„Bitte, Serena …“ Lady Pendomer lächelte. „Sehen Sie mich doch nicht so böse an. Es wäre nicht fair von mir, wenn ich Ihnen falsche Hoffnungen machte! Wenn Sie erreichen wollen, dass die gute Gesellschaft von Ihnen Notiz nimmt, dann müssen Sie ein Haus in einer der vornehmen Gegenden Londons mieten. Sie müssen eine umfangreiche, der neuesten Mode entsprechende Garderobe haben. Sie brauchen Bedienstete und natürlich auch eine Kutsche und Pferde. Wovon wollen Sie das alles bezahlen? Als wir mit Caroline nach England gingen, um sie in die Gesellschaft einzuführen, da konnten wir bei einem Cousin meines Gatten wohnen. Sie aber, Serena, haben, soweit ich weiß, keine Verwandten in London.“
„Das ist richtig. Und es stimmt natürlich, dass mein Vater mir nichts als Sorgen hinterlassen hat. Der Besitz ist hoch belastet. Dabei bringen die Ländereien gerade soviel ein, dass wir davon leben und jährlich einen geringen Teil der Schulden zurückzahlen können.“
„Sie denken doch sicher nicht daran, eine weitere Hypothek aufzunehmen?“
„Nein. Ohne entsprechende Sicherheiten wäre wohl auch niemand bereit, mir Geld zu leihen …“
„Was also haben Sie vor, Serena?“
„Ich habe ein bisschen gespart. Und dann besitze ich auch noch einiges an Schmuck.“
„Liebste Serena, Ihren Schmuck dürfen Sie auf keinen Fall veräußern!“, rief Lady Pendomer erregt aus. „Er stellt Ihre gesamte Mitgift da. Und wenn Sie nicht heiraten sollten, ist er sozusagen Ihre einzige Sicherheit für ein sorgenfreies Alter.“
„Ich will ja nicht alles verkaufen. Wahrscheinlich reicht es, wenn ich mich von dem Cardoman-Kollier trenne.“
„Das Cardoman-Kollier?“ Lady Pendomer schüttelte fassungslos den Kopf. „Sie wollen das Cardoman-Kollier verkaufen?“
„Ja, warum nicht? Es ist nicht einmal besonders schön.“
„Aber es ist ein wertvolles Erbstück! Serena, ich habe wirklich den Eindruck, dass Sie heute nicht Sie selbst sind. Das Schmuckstück mag uns altmodisch erscheinen, schließlich ist es mehr als hundertfünfzig Jahre alt. Aber welche Familie kann schon von sich sagen, dass sie ein so ungewöhnliches Geschenk eines Königs zu ihrem Besitz zählt? Es heißt, dass König Charles Arabella Cardoman geheiratet hätte, wenn ihm das nur möglich gewesen wäre. Das Kollier war ein Liebespfand! Sie dürfen es nicht hergeben!“
Die Gattin des Gouverneurs warf der jungen Frau einen nachdenklichen Blick zu. „Im übrigen“, fuhr sie fort, „bezweifele ich, dass Sie einen Käufer für das Schmuckstück finden würden.“
„Da täuschen Sie sich, Lady P“, gab Miss Calvert zurück. „Ich habe bereits einen Käufer. Und was den ideellen Wert des Kolliers betrifft … Es hat keinen Zweck, das Schmuckstück für die Familie zu erhalten. Cardomans gibt es schon lange nicht mehr. Und meine Nichte Lucy und ich sind die letzten, die den Namen Calvert tragen. Wenn wir heiraten – oder sterben – wird e