1. KAPITEL
John Daniels war ganz offensichtlich ein Alpha-Mann vom Scheitel seiner pechschwarzen glänzenden Haare bis zu den Sohlen seiner gut eingelaufenen Reeboks.
Und er wusste das auch, war ihm doch das Verhalten von Leitwölfen aus Tierfilmen im Fernsehen bestens vertraut. Ob Tier oder Mensch, Alpha-Männchen waren leicht zu erkennen. Sie waren äußerst durchsetzungsfähig, konnten in fast aussichtslosen Situationen überleben und waren immer bereit, die Ordnung des Rudels wiederherzustellen, notfalls auch gewaltsam.
Auch John hatte nichts gegen eine gelegentliche Prügelei, ja, im Moment fieberte er sogar danach. Er musste sich irgendwie abreagieren.
Er war zweifellos der frustrierteste Mensch in ganz Kalifornien, und wenn er mit seinem silberfarbenen 2001 Lotus Esprit über die Grenze nach Oregon fuhr, dann würde er bestimmt auch der frustrierteste Mann in Oregon sein. Und warum?
Weil er Urlaub hatte.
John konnte sich zwar vorstellen, dass sich Buchhalter, Anwälte oder Bankangestellte auf ihren Urlaub freuten. Diese armen Kerle mussten schließlich tagein, tagaus derselben Routine folgen und waren dabei noch meistens an ihre Schreibtische gefesselt. Und was hatten sie am Ende eines Arbeitstages vorzuweisen? Konnten sie etwa zufrieden einem gefährlichen Verbrecher hinterhersehen, der in Handschellen abgeführt wurde? Natürlich nicht. Und liefen ihnen bei ihrer Arbeit junge Frauen über den Weg, die gerettet werden mussten? Bestimmt nicht. Verständlich, dass sie sich auf ihren Urlaub freuten, der eine Unterbrechung ihres armseligen, monotonen Lebens versprach.
Er, John, befand sich da in einer ganz anderen Lage, denn er gehörte zu den Glücklichen, die einen Traumjob hatten. Er war Polizist, und Gefahr und Überraschungen gehörten zu seinem Tagesablauf. Er nahm sie gern auf sich, um einen positiven Beitrag zur Verbesserung der Welt leisten zu können. Dafür setzte er sich mit seiner ganzen Energie ein. Halbe Sachen gab es bei ihm nicht. Natürlich geriet er oft in gefährliche Situationen, aber im Großen und Ganzen wurde dies durch das Bewusstsein aufgewogen, ein Vertreter des Gesetzes in einer Welt voller Verbrecher zu sein. Selbst Schlafen empfand er nur als verpasste Gelegenheit, die Bürger zu schützen und zu verteidigen, Bösewichte zu fassen und Ordnung zu schaffen. Auch ein Essen in einem guten Restaurant war für ihn Zeitverschwendung, weil er dazu zwei ganze Stunden seinen Pieper abstellen musste und womöglich etwas versäumte. Als absolut sinnlos aber betrachtete er Urlaub von einem Leben, das ihm wie auf den Leib geschneidert war. Das bedeutete nur entsetzliche Langweile.
Vier Jahre lang war es ihm gelungen, beim Urlaub übergangen zu werden. Leider aber waren sein Partner und er vor kurzer Zeit bei einer Drogenrazzia in einen Hinterhalt geraten. Merkley war ein kräftiger Schwarzer, der eher wie ein Footballspieler aussah als wie ein Polizist. John hatte immer geglaubt, dass seinem Freund und Mentor nie etwas zustoßen könnte, aber dieses Mal war Merkley zwei Mal in die Brust getroffen worden. Ein paar Tage lang hatte sein Leben auf Messers Schneide gestanden, aber der fünfzigjährige Veteran hatte nicht aufgegeben. Es wäre auch unvorstellbar gewesen, wenn Merkley sein Leben wegen eines miesen Drogenhändlers verloren hätte. Sobald Merkley außer Lebensgefahr war, dachte John darüber nach, wie er sich an dem Verantwortlichen rächen könnte.
John hatte viele Freunde, die ihn gut kannten. Sie alle wussten, dass man ihm möglichst aus dem Weg ging, wenn er ein Unrecht sah und in Wut geriet. Sein Vorgesetzter, Captain Benjamin Todd, wusste sehr wohl, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis John denjenigen erwischte, der seinen Partner niedergeschossen hatte. Unweigerlich würde John den Freund rächen wollen und sich damit in Schwierigkeiten bringen. Also hatte Todd ihm “bis auf Weiteres” Urlaub verordnet, “irgendwo außerhalb Kaliforniens”.
Alpha-Männchen haben oft Schwierigkeiten, sich anderen unterzuordnen, und John bildete da keine Ausnahme. Er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn seinen Job nicht machen ließ – das war beinahe so frustrierend wie Urlaub.
Jetzt hatte er schon neun Stunden Urlaub und meinte zu platzen, wenn er auch nur eine Minute länger ziellos herumfahren musste. Seit er Los Angeles verlassen hatte, schüttete es. Außerdem hatte er Kopfschmerzen und ein ungutes Kratzen im Hals. Wahrscheinlich bekam er eine Erkältung. Kein Wunder. Seine Gesundheit schien direkt von seinem Kampf gegen Verbrechen abzuhängen. Je mehr er beansprucht wurde und je häufiger er Verbrecher ihrem gerechten Schicksal zuführen konnte, desto gesunder fühlte er sich. Langeweile und Frustration aber riefen Schnupfen und Husten geradezu hervor. John sehnte sich nach einem sauberen Bett und weichen Taschentüchern. Als er schließlich niesend den kleinen Ort Providence erreicht hatte, beschloss er, sich ein Motel zu suchen.
Die Sonne war fast untergegangen. Ihre letzten Strahlen spiegelten sich auf dem silbrigen Lack des Lotus wider, als John die Mainstreet entlangfuhr. Seine Kollegen würden ihn nicht erkennen, denn er hielt den Wagen normalerweise in seiner Garage verborgen. Zur Arbeit fuhr er mit einem alten Mittelklasseauto, das schon viele Meilen auf dem Tacho hatte und schlechte Reifen hatte wie die Wagen der anderen Polizisten auch. In diesem Beruf konnte man nicht reich werden.
John sah aus wie ein Polizist, bewegte sich wie ein Polizist und sprach wie ein Polizist, obwohl es ein paar Dinge in seinem Leben gab, die er streng geheim hielt. Seine Kollegen durften nicht wissen, dass er überdurchschnittlich intelligent war. Er hatte ein fotografisches Gedächtnis, was ihm bei seiner Arbeit außerordentlich half. Aber er versuchte, möglichst wenig Aufhebens davon zu machen. Er war schließlich mit diesen intellektuellen Gaben geboren worden. Sie waren nicht sein Verdienst. In der Highschool wäre er als Hochbegabter bei den Mitschülern sofort untendurch gewesen, wenn er es nicht geschafft hätte, Quarterback des Footballteams zu werden. Er hatte seine Mannschaft sogar bis zum Landessieg geführt.
Mit seinen dreiunddreißig Jahren war John jetzt älter und weiser und hatte gelernt, seinen erstaunlichen Intellekt vor anderen zu verbergen. Während seines letzten Studienjahres hatte ein Wirtschaftsprofessor die Chancen, erfolgreich mit Aktien zu spekulieren, mit der Wahrscheinlichkeit verglichen, in Las Vegas den Jackpot zu gewinnen. Das hatte John gereizt, und er hatte sich sofort darangemacht, alles über die Börse zu lernen. Dann hatte er das kleine Erbe, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, in Aktien angelegt und hatte in den nächsten Jahren so geschickt spekuliert, dass er jetzt ein ziemliches Vermögen besaß. Aber außer seinem Anwalt und seinem Banker wusste niemand von seinem Reichtum. John hatte Angst, dass seine Kollegen ihn nicht mehr als einen der Ihren ansehen würden, wenn sie seine finanzielle Situation kannten. Hin und wieder allerdings leistete er sich etwas Besonderes, wie zum Beispiel diesen teuren Wagen. Und er genoss es, ih