: Hans Rath
: Halb so wild
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644200142
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Freunde gibt's, die gibt's gar nicht In Adams Leben knirscht es gewaltig. Als sein Herz rebelliert und damit ein deutliches Signal sendet, fliegt er nach Island, um in der urwüchsigen Landschaft gründlich über sein Leben nachzudenken. Im Sturm stürzt Adam von einer Klippe - und wird von einem seltsamen Typen gerettet: Magnus, ein kleinwüchsiger, etwas verlotterter Mittzwanziger in Wollklamotten. Der behauptet, ein waschechter Troll zu sein - in dessen Schuld Adam nun steht. Was in Island so viel heißt wie: Magnus genießt Sonderrechte, und Adam wird ihn nicht wieder los, auch nicht bei der Rückreise nach Berlin. Dort versucht Adam, sein Leben aufzuräumen, doch der anarchische Magnus stürzt es immer tiefer ins Chaos.

Hans Rath, geboren 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor tätig ist. Zwei Bände seiner Romantrilogie um den Mittvierziger Paul Schubert wurden fürs Kino adaptiert. Seine aktuellen Bücher aus der Reihe «Und Gott sprach» sind ebenfalls Bestseller.

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Am Ende sind alle Märchen wahr.

Warum mir ausgerechnet dieser Gedanke durch den Kopf schießt, als ich mit stechenden Brustschmerzen und heftiger Atemnot in die Rabatten des Stadtparks stolpere, ist mir völlig schleierhaft.

Gleichermaßen erschüttert wie verwundert versinke ich in einem Meer aus blauen Hortensien. Der Aufprall fühlt sich an wie ein heftiger Rempler. Ich rieche die trockene Erde und schmecke den aufwirbelnden Staub.

Dann denke ich: Aha, das war es jetzt also. Schluss, aus und vorbei. Ich bin erledigt. Mein Leben endet in einem Hortensienbeet. Was wohl meine Familie sagen wird, wenn sie hört, dass ich so plötzlich den Löffel abgegeben habe?

Sterben ist ein seltsames Gefühl. Außerdem ärgert es mich, dass das wirklich schon alles gewesen sein soll. Ich hatte doch noch so viel vor. Zwar irgendwie nichts Konkretes, aber insgesamt gesehen wollte ich schon noch eine ganze Menge erleben.

Alle, die schon immer gewusst haben, dass man Dinge nicht auf die lange Bank schieben darf, haben also recht behalten. Kunststück, in der Theorie wusste ich das auch. Aber in der Praxis ist es dann doch nicht so einfach, wie es sich anhört. Wer jeden Tag so lebt, als wäre es sein letzter, der ist schneller arbeitslos und pleite, als er Carpe Diem sagen kann. Aber jetzt gerade denke ich, dass ich das vielleicht hätte riskieren sollen.

«Hilfe! Hier braucht jemand Hilfe!», höre ich eine aufgeregte Stimme rufen. Sie scheint aus weiter Ferne zu kommen. Vermutlich gehört sie der ebenso jungen wie drahtigen Eisverkäuferin, an deren Stand ich vor einer Minute vorbeispaziert bin. Sie hat meinen Zusammenbruch bestimmt mitbekommen.

Ich habe leider eine Menge guter Gründe für einen Herzinfarkt. Mein Job ist anstrengend, meine Ehe noch sehr viel anstrengender. Ich rauche, und ich trinke regelmäßig Alkohol, treibe aber selten Sport. Und ich werde in wenigen Monaten fünfzig – zumindest war das bis eben noch so geplant.

«Hallo? Können Sie mich hören?» Diesmal fragt eine junge Männerstimme. Es ist wahrscheinlich der Fahrradkurier, den ich eben habe heranpreschen sehen, ein gertenschlanker Kerl mit Ganzkörperneoprenanzug und Hipsterbart.

Ich merke, dass ich auf den Rücken gedreht werde, und versuche, die Augen zu öffnen, aber es geht nicht. Meine Lider sind schwer wie Blei. Der süßliche Duft der Hortensien steigt mir in die Nase, und ich spüre die Sonne im Gesicht.

«Hören Sie mich? Hallo?» Wieder die Männerstimme, diesmal drängender.

Ich will etwas sagen, doch meine Stimmbänder regen sich ebenso wenig wie meine Augenlider.

In der Ferne ist eine Sirene zu hören. Die Kavallerie ist unterwegs. Hoffentlich ist sie auch meinetwegen ausgerückt. In Berlin hört man ja ständig irgendwo das Jaulen von Sirenen. Könnte auch sein, dass da ein Diplomat eiligst zu einem wichtigen Termin chauffiert wird, während ich hier noch eine Weile auf meine Mitfahrgelegenheit warten muss.

Ist überhaupt schon jemand auf die Idee gekommen, mir einen Krankenwagen zu rufen?

«Er reagiert nicht», höre ich die Männerstimme sagen.

«Ist er etwa tot?», fragt die Frauenstimme besorgt.