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Riskant zu leben bedeutet, von einer Klippe zu springen und sich erst auf dem Weg nach unten Flügel zu bauen.
Ray Bradbury
Das ist wahrscheinlich das mit Abstand Dümmste, das ich je getan habe, dachte Charley Abbot, als sie einen steilen Bergpfad hochjoggte, der mit Schnee und Eis bedeckt war. Doch Gott bewahre, sie würde auf keinen Fall vor einer direkten Herausforderung ihres Erzfeindes zurückschrecken. Besagter Erzfeind trabte fröhlich neben ihr her, wich geschickt Hindernissen auf dem unbefestigten Weg aus und atmete kaum schneller als normal, während sie kurz davor war, vor Erschöpfung und Kälte zusammenzubrechen. Außerdem war ihr Gesicht taub, und sie nahm an, dass es von gefrorenem Rotz bedeckt war. Aber Aufgeben war keine Option, also schleppte sie sich weiter den Berg hinauf durch den Schnee, wild entschlossen, es durchzuziehen, und wenn es das Letzte war, das sie tat.
Wie er sie angeschaut hatte, als er sagte: »Wenn es zu viel für dich ist, kann ich auch allein laufen gehen. Eine Woche ohne Training wird dich schon nicht zurückwerfen.« Wie ein Stier, dem das rote Tuch vor der Nase geschwenkt wurde, hatte Charley die Herausforderung angenommen. Und jetzt rannte sie diesen vereisten Berg hoch, ohne ein Ende in Sicht. Sie war sich sicher, dass ihre Lunge explodieren würde oder ihr die Beine abfallen würden, lang bevor sie den Gipfel erreichte. Vom Abstieg ganz zu schweigen …Immer schön eins nach dem anderen, Charley.
Wessen bescheuerte Idee war es eigentlich gewesen, für den Marathon zu trainieren? Während sie sich durch die eisige Kälte kämpfte, die alle anderen Mitglieder ihres Lauftreffs heute vom Training abgehalten hatte – außer ihm natürlich –, fiel ihr kein einziger Grund mehr ein, weshalb sie überhaupt einen Marathon laufen wollte. Das war ein dummes, lächerliches und vor allem schmerzhaftes Ziel. Doch Charley war nicht dafür bekannt, den einfachen Weg zu wählen, also hatte sie sich dazu entschieden, was eben auch bedeutete, bei solchem Wetter zu trainieren.
Bei Tyler Westcott sah das Ganze viel zu einfach aus. Noch eine Sache mehr, die es an diesem Mann zu hassen gab, der sie mit seinem beharrlichen Umwerben in den Wahnsinn trieb, obwohl sie null Interesse an ihm hatte. Sicher, er war gutaussehend und fit, und er schien einen ordentlichen Job zu haben, zumindest ließ das sein teurer Range Rover vermuten – und die stylischen Klamotten und überhaupt sein selbstbewusstes Auftreten. Nur leider beeindruckte das diese Frau kein bisschen, die sich schon quer durch Butler, Vermont, gedatet und an jedem Mann einen größeren oder kleineren Fehler gefunden hatte.
Wieso Tyler dachte, bei ihm wäre das anders, war ihr ein Rätsel – genau wie die Frage, wie sie es je auf diesen Berg schaffen sollte. Gerade hatte sie festgestellt, dass sie kaum noch blinzeln konnte, weil ihre Augenlider eingefroren waren. Charley beschloss, dass es genug war. Selbst, wenn sie dann wie eine Verliererin dastehen würde; sie musste diesem Höllen-Work-out ein Ende setzen.
Als sie den Mund aufmachen wollte, um ihr Aufgeben zu verkünden, brach plötzlich der Boden unter ihren Füßen weg. Sie schrie auf, als sie einen steilen Hang hinabrutschte, gegen Baumstämme und Felsen krachte, ehe sie schließlich liegen blieb, ihr rechtes Bein in einem unnatürlichen, schmerzhaften Winkel verdreht. Mühsam versuchte sie zu atmen. Alles tat ihr weh.
Aus der Ferne hörte sie, wie Tyler nach ihr rief, doch sie konnte nicht antworten, da sie kaum Luft bekam.
»Charley, o mein Gott! Sag etwas oder tu irgendwas, damit ich weiß, dass du am Leben bist.«
Schwach hob sie den Arm.
»Gott sei Dank. Ich hole Hilfe. Ich bin, so schnell es geht, wieder da. Hast du mich verstanden?«
Sie hob wieder den Arm.
»Es wird alles wieder gut. Ich verspreche es. Halt durch, bis ich wieder da bin.«
Charley winkte, in der Hoffnung, er würde sich beeilen. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne heftig klapperten, doch seltsamerweise spürte sie die Kälte nicht. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was ihre Brüder, die ausgebildete Rettungssanitäter waren, ihr über Schock und Überleben in der Kälte beigebracht hatten. Dummerweise stellte sie sich sofort das Worst-Case-Szenario vor. Was, wenn Tyler auf dem Rückweg stürzte und sich auch verletzte? Oder wenn er die Stelle nicht mehr fand, an der sie abgerutscht war? Was passierte dann? Wurde es bereits dunkel, oder war mit ihren Augen auch was kaputt?
Das unkontrollierbare Zittern und der Schmerz in ihrem Knie waren so stark, dass sie kaum denken konnte. Das war nicht gut. Sie saß ordentlich in der Klemme. Und ihr Leben hing von einem Mann ab, den sie schon so oft abgewiesen hatte, dass sein immer noch sehr gesundes Selbstbewusstsein mehr als verwunderlich war. Sie hätte über die Ironie der Situation gelacht, wäre da nicht dieser unerträgliche Schmerz in ihrem Knie.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie drehte schnell den Kopf, weil sie sich erbrechen musste. Dabei bemerkte sie Blutflecken im Schnee. War das etwa ein Zeichen für innere Blutungen?
Charley hatte keine Ahnung, wie lang sie zitternd und sich immer wieder übergebend im Schnee lag. Sie merkte, wie die Bewusstlosigkeit nach ihr griff, doch der stark