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New York City
Kurz vor 22 Uhr entschied Mitch Rapp, dass es Zeit wurde, in Aktion zu treten. Er stieg aus der Limousine, ließ den Regenschirm in der kühlen Aprilnacht aufschnappen, schlug den Kragen des schwarzen Trenchcoats hoch und überquerte die regenüberflutete East Twentieth Street. Er umkurvte die Pfützen und vollgelaufenen Abflussrinnen, ohne sich daran zu stören. Das Wetter war ein Segen. Es hielt ungebetene Zuschauer von den Straßen fern und lieferte ihm einen Vorwand, sein Gesicht vor der ständig wachsenden Armee städtischer Überwachungskameras zu verbergen.
Rapp war nach New York gekommen, um das Schicksal eines Mannes zu besiegeln. Zuvor hatte er sich die Frage gestellt, ob es klug war, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Abgesehen von dem Risiko, dabei erwischt zu werden, gab es noch ein weiteres, deutlich drückenderes Problem. Vor gerade mal sechs Tagen hatte eine Reihe von Explosionen Washington, D. C. erschüttert, 185 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt. Drei der Terroristen befanden sich noch auf freiem Fuß. Rapp hatte die Anweisung erhalten, natürlich unter der Hand, sie unbedingt zu finden. Bislang gestaltete sich die Suche jedoch unglaublich kompliziert. Er wartete nach wie vor auf eine konkrete Spur. Die drei Männer waren komplett von der Bildfläche verschwunden, was eine Cleverness suggerierte, die ihnen nur wenige zugetraut hätten. Aber dass er sich immer noch um diese andere Baustelle kümmern musste, überraschte Rapp weitaus mehr. Nach den Attentaten in der Hauptstadt hatte er damit gerechnet, dass dieser Narr endlich zur Besinnung kam.
Es ging nicht allein um die Entscheidung, ob der Kerl leben oder sterben sollte, sondern auch um die möglichen Auswirkungen. Mit dem Tod des Mannes schuf er möglicherweise mehr Probleme, als er löste. Wenn der andere nicht mehr zur Arbeit erschien, warf das zwangsläufig Fragen auf – die meisten davon würde man Rapp und seiner Chefin Irene Kennedy stellen, die auch Chefin der Central Intelligence Agency war. Ein kleiner Fehltritt reichte, um ihnen den größten Shitstorm aller Zeiten zu bescheren.
Der Leiter des Überwachungsteams hatte versucht, ihm die Aktion auszureden, aber Rapp gehörte nicht zu den Leuten, die von einem klimatisierten Büro aus, Hunderte Meilen entfernt, den Befehl zum Zugriff gaben. Er musste mit eigenen Augen sehen, ob ihnen etwas entgangen war, irgendwelche unvorhersehbaren Überraschungen, die den Bürokraten vom rechten Weg abgebracht hatten.
Rapp war sich seiner tiefen Abneigung für den Mann, den er hier in New York jagte, vollauf bewusst. Es gab eine Menge Leute im Undercover-Bereich, die diesem Scheißkerl den Tod wünschten. Ein Grund mehr für Rapp, ganz sicherzugehen, dass kein Zweifel an seiner Schuld bestand. Seine Abneigung für den anderen machte es verdammt verlockend, einfach den Abzug durchzudrücken. Rapp wusste, dass er gegen diesen Drang ankämpfen musste. Dieser Idiot verdiente trotz allem die Chance, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, bevor sie etwas taten, das sich nicht rückgängig machen ließ.
Trotzdem durfte man sich auf keinen Fall zu sehr auf Rapps Zurückhaltung verlassen. Sobald er auf Beweise stieß, war Schluss mit vorsichtigem Abwägen und Anfassen mit Samthandschuhen. Er hatte schon zu viele Menschen getötet, um so etwas nicht konsequent durchzuziehen. Ja, der andere war ebenfalls Amerikaner, aber eben aller Wahrscheinlichkeit nach auch ein Verräter. Und zwar kein kleines Licht, das Akten auf dem Schreibtisch von einem Stapel auf den anderen schob, sondern jemand mit einer der höchsten Sicherheitsfreigaben innerhalb der US-Regierung. Wie es aussah, hatte seine Scheinheiligkeit einen von Rapps Agenten das Leben gekostet.
Rapp schlenderte in gemäßigtem Tempo über den Bürgersteig in Richtung Park Avenue. Er trug so ähnliche Kleidung wie mehr als tausend andere Chauffeure, die ihre Kunden an diesem regnerischen Abend durch die Stadt kutschierten – schwarze Schuhe, schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte und schwarzer Mantel. Wer ihn zu Gesicht bekam, sah in ihm nur einen typischen Fahrer, der sich kurz die Beine vertrat und ein wenig Zeit von der Uhr nahm, bis sein Auftraggeber das Dinner beendet hatte und sich in die nächste Bar oder nach Hause fahren ließ.
Rapp postierte sich auf der anderen Straßenseite, ein Haus von der Gramercy Tavern entfernt, griff in die Tasche des Trenchcoats und fischte eine Packung Marlboros heraus. Wenn man untätig im Regen von New York herumstand, lenkte man unnötig Aufmerksamkeit auf sich. Das änderte sich, sobald man eine Zigarette ins Spiel brachte und sich wie all die anderen Süchtigen benahm, die trotz der Naturgewalten nicht auf ihren Nikotinschub verzichten konnten. Er drehte sich von der Straße weg zur schmucklosen Mauer des Gebäudes in seinem Rücken, hielt sich den Schirm vors Gesicht, als wollte er den Wind abschirmen, und ließ das Feuerzeug aufflackern. Im Prinzip war ihm der Wind egal, aber er wollte nicht riskieren, dass einer der anderen Fahrer im Schein der Flamme sein Gesicht erkannte.
Nach einem tiefen Zug aus der Zigarette spähte Rapp beiläufig unter dem klatschnassen Schirm hindurch über die Straße. Die Zielperson saß hinter einem der raumhohen Fenster des Restaurants und machte sich mit einem anderen Mann, den Rapp noch nie gesehen hatte und gar nicht näher kennenlernen wollte, über Essen und eine Menge Alkohol