2 Historische Quellen und konzeptionelle Hintergründe
2.1 Psychoanalyse und Balint-Gruppen
In Adrian Gärtners historischer Darstellung zur Gruppensupervision (1999, S. 21 ff.) wird eine Arbeit von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, als eine Vorform der Fallbesprechung aufgeführt. In der Analyse des kleinen Hans leitet Freud dessen Vater, einen ärztlichen Kollegen, bei der Therapie der Ängste seines Sohnes an. Er lässt sich vom Vater Verhalten und Reaktionen des Sohnes schildern und gibt ihm dann Hinweise für den weiteren Umgang mit dem Sohn. Sicherlich könnte man dies auch als eine frühe Form der Familientherapie mit Vater und Sohn verstehen. Doch »diese merkwürdige Konstellation« gewinnt ihre Bedeutung dadurch,
»dass Freud die therapeutische Zweipersonenbeziehung um ein Verfahren der indirekten Analyse erweitert hat, das dem Modell der Supervisionsbeziehung bereits weitgehend entspricht« (ebd., S. 21).
In dieserTherapie zu dritt bildet sich dieGrundkonstellation einer Fallbesprechung ab, auch wenn es nicht so genannt wird: das auf professionelles Handeln bezogene Reden über einen abwesenden Dritten sowie über die Arbeitsbeziehung des einen Gesprächspartners mit diesem Dritten.
Im Zuge der Formalisierung der Ausbildung zur Psychoanalytikerin in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts entsteht daraus die »Kontrollanalyse« mit dem Ziel, die Ausbildungskandidaten in die »richtige« Form der Analyse einzuführen. In ihr müssen angehende Analytikerinnen ihre eigene Arbeit mit einem Patienten einem erfahrenen Kontrollanalytiker vorstellen und sich von ihm beraten und eben auch kontrollieren lassen.
Auch alle weiteren psychotherapeutischen Schulen machten Gruppensupervision, Praxisanleitung und Fallbesprechungen verfahrensübergreifend zum festen Bestandteil ihrer therapeutischen wie beraterischen Aus- und Weiterbildungen. Dort lernen angehende Therapeuten und Beraterinnen, das jeweilige Therapie- oder Beratungskonzept auf den besonderen Einzelfall anzuwenden. Dies geschieht unter der Anleitung von erfahrenen und dazu legitimierten Kolleginnen, die die geschilderten Patienten weder kennen noch mit ihnen direkt zu tun haben.
Mit dem Namen von Michael Balint, einem ungarischen Psychoanalytiker der ersten Stunde, der später in London in der Tavistock-Klinik arbeitete und lehrte, sind die Balint-Gruppen verbunden. Balint berichtet in der Einführung seiner maßgeblichen Publikation zu diesem Thema über ein an der Klinik regelmäßig stattfindendes Forschungsseminar, das sich mit den in der medizinischen Allgemeinpraxis auftauchenden psychologischen Problemen beschäftigte.
»Eines der ersten Themen, die zur Diskussion kamen, betraf die gebräuchlichsten, vom praktischen Arzt besonders oft verschriebenen Medikamente. Und gewiss nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Medizin führte die Diskussion sehr bald zu der Erkenntnis, dass das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel der Arzt selber sei. Nicht die Flasche Medizin oder die Tabletten seien ausschlaggebend, sondern die Art und Weise, wie der Arzt sie verschreibe – kurz, die ganze Atmosphäre, in welcher die Medizin verabreicht und genommen werde« (Balint 2010, S. 15),
so sein Motto. Dies brachte ihn zu der Überzeugung, dass der Arzt selber bzw. seine Beziehung zum Patienten das wichtigste Heilmittel sei, eine Haltung die damals wie heute quer zur dominanten Logik des medizinischen Feldes lag und liegt. Für die nach ihm benannten Balint-Gruppen ergab sich daraus die Aufgabe, in einer von einem erfahrenen Arzt geleiteten Gruppe die latenten und unbewussten Themen in der Arzt-Patient-Beziehung herauszuarbeiten und dem jeweils handelnden Arzt bewusst zu machen. Die Gruppenmitglieder wurden aufgefordert, ihre freien Assoziationen zur Verfügung zu stellen, also unzensiert und spontan zu erzählen, was ihnen zur erzählten Situation einfiel. Die so zutage geförderten Ideen sollten ein erweitertes Verständnis ermöglichen dafür, was die Patienten »eigentlich« vom Arzt wollen; z. B., wofür sie ihn halten oder warum sie z. B. mit Abwehr und Widerstand auf die Behandlung reagieren usw. Balint machte bei dieser Arbeit die Erfahrung, dass sich die Dynamik des Falles in der Gruppe spiegelte und genau diese von den Mitgliedern erlebte Resonanz zum Verstehen des Falles und damit als Arbeitsinstrument genutzt werden konnte. Bis heut