Erstes Kapitel
06:00
Ruhiger und dunkler wurde es auf der Fifth Avenue nicht.
Jennifer Maloy warf einen Blick auf die Straßenlaternen und den stetig fließenden Verkehr. Sie spitzte verärgert die Lippen. Das Licht und die Aktivitäten gefielen ihr nicht, aber sie konnte kaum etwas dagegen tun. Schließlich war dies die Fifth Avenue auf Höhe der 73rd Street, inmitten einer Stadt, die nie schläft. In den letzten Tagen, in denen sie die Gegend ausgekundschaftet hatte, war es um diese Uhrzeit nicht weniger geschäftig zugegangen, und sie hatte keinen Grund zu der Annahme, dass sich die Verhältnisse je bessern würden.
Die Hände tief in den Taschen ihres Trenchcoats, ging sie an dem fünfstöckigen grauen Wohnhaus vorbei und huschte in die Gasse dahinter. Sie zog sich in einen Teil der Gasse zurück, der durch einen Müllcontainer abgeschirmt wurde, und lächelte.
Wie oft sie es auch schon getan haben mochte, es war immer noch aufregend. Ihr Puls beschleunigte sich, und sie atmete schneller, während sie sich die kapuzenähnliche Maske überstreifte, die ihre fein gemeißelten Züge und den im Nacken zu einem Knoten zusammengebundenen blonden Schopf verbarg. Sie zog ihren Trenchcoat aus, faltete ihn ordentlich zusammen und legte ihn neben den Müllcontainer. Unter dem Trenchcoat trug sie nur einen knappen schwarzen Bikini. Sie war hager, auf grazile Art muskulös und hatte kleine Brüste, schlanke Hüften und lange Beine. Sie bückte sich, zog die Turnschuhe aus und stellte sie neben den Trenchcoat.
Beinahe zärtlich strich sie mit der Hand über den Verputz des grauen Wohnhauses, lächelte und ging dann einfach durch die Wand.
Es war das Geräusch einer Motorsäge, die durch feuchtes, hartes Holz schnitt. Das Jaulen der Kette bereitete Jacks Zähnen Schmerzen, während sich der nur zu bekannte Junge mühte, sich tiefer im Gewirr der Zypressen zu verstecken.
»Er ist irgendwo da drinnen!«
Das war sein Onkel Jacques. Die Leute um Atelier Parish nannten ihn Snake-Jake. Zumindest hinter seinem Rücken.
Der Junge biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Dann biss er noch fester zu, bis er Blut schmeckte, um sich nicht zuverwandeln. Manchmal klappte das. Manchmal …
Wieder fuhr die Stahlsäge kreischend in feuchtes Zypressenholz. Der Junge duckte sich ganz tief. Braunes, brackiges Wasser schwappte ihm gegen den Mund und in die Nase. Er würgte, während der Bayou über sein Gesicht wusch.
»Ich sag’s doch! Der kleine Alligatorköder ist da drinnen. Fangt ihn.« Andere Stimmen fielen ein.
Die Säge heulte erneut auf.
Jack Robicheaux schlug in der Dunkelheit um sich, einen Arm in sein verschwitztes Laken verheddert, während der andere nach dem Telefon tastete. Er knallte die Tiffany-Lampe gegen die Wand, fluchte, als er irgendwie den Lampenfuß zu fassen bekam und sie wieder auf den Nachttisch stellte, und spürte dann die kühle Glätte des Telefons. Mitten im vierten Klingeln nahm er den Hörer ab.
Jack fing wieder an zu fluchen. Wer zum Teufel hatte diese Nummer? Bagabond natürlich, die aber hielt sich in einem anderen Zimmer seiner Behausung auf. Bevor er den Hörer ans Ohr hielt, wusste er, wer anrief.