Katharina war einsam. Ihr Mann war Alkoholiker und vor einem halben Jahr an Leberkrebs gestorben. Das Leben mit ihm war nicht einfach, im wahrsten Sinne des Wortes hatte sie in ihrer Ehe nichts zu lachen gehabt. Doch trotz der Trunksucht und seiner cholerischen Ausbrüche vermisste sie ihren Mann, mit der Einsamkeit kam sie nicht zurecht – weder emotional noch finanziell. Um über die Runden zu kommen, putzte sie in mehreren Rechtsanwaltskanzleien frühmorgens die Büroräume.
Eines Morgens stand sie mit ihrem Fahrrad vor einer Ampel. Sie war auf dem Weg zur Kanzlei und wartete auf Grün. Sie hätte auch einfach losfahren können, denn die Straßen und Radwege waren noch nicht bevölkert. Nur ein großer gelber Wagen der Straßenreinigung überquerte die Kreuzung. Während sie müde an ihr Fahrrad gelehnt stand und wartete und der Wagen an ihr vorbeizog, stieg urplötzlich ein unerklärlich helles Gefühl in ihr auf. Es nahm seinen Ursprung in den tiefsten Regionen des Bauches, dort, wo die Eingeweide sitzen, breitete sich kopfwärts über die Brust aus und war schließlich bis in die Fingerspitzen zu spüren. Katharina fühlte sich mit einem Mal von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl durchströmt. Später in der Klinik rang sie mit den Worten, um dieses Gefühl beschreiben zu können. »Es war ein Glückssturm! Wie wenn alles schön wäre und von innen leuchten würde.« Kurz darauf verlor sie an der Ampel schlagartig das Bewusstsein. Ihr gesamter Körper verkrampfte sich, sie nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr; unfähig zu atmen, verfärbte sich ihr Gesicht und nahm einen tiefblauen Farbton an. Schließlich biss sie sich in die Zunge und fiel steif und lang hin wie ein umgeholzter Baum. Kurz darauf war sie in einem Krankenwagen auf dem Weg in die Notaufnahme – der Fahrer des gelben Straßenreinigungswagens hatte Katharinas Krampfanfall bemerkt und war ihr zu Hilfe gekommen.
Was Katharina passiert war, ist weniger außergewöhnlich, als man denken würde. Eine alte Bezeichnung dieses Phänomens ist »Fallsucht«, heute reden wir von Epilepsie. Mithilfe einer Messung ihrer Hirnströme, auchEEG (Elektroenzephalographie) genannt, konnte nachgewiesen werden, dass Katharinas Gehirn nicht mehr in geordneten Bahnen funktionierte, sondern Gewitterstürme elektrischer Entladungen über ihre Gehirnoberfläche hinwegtosten. Bei der Messung wurden Elektroden auf ihrer Kopfhaut platziert, ähnlich den auf die Brustwand aufgeklebten Elektroden beimEKG (Elektrokardiogramm), das für Herzuntersuchungen verwendet wird. Das bei der Patientin Katharina abgeleiteteEEG belegte, dass ihre linke Hirnhälfteüberschießend reagierte und eine hohe »Anfallsbereitschaft« zeigte.
Doch was hatte es mit den intensiven Glücksmomenten vor dem Anfall auf sich? Ganz offensichtlich waren sie nicht durch äußere Begebenheiten hervorgerufen worden. Eine rote Ampel und die Wagen der Straßenreinigung sind nicht gerade dazu angetan, Glücksgefühle zu erzeugen. Dieses intensive Glücksempfinden war das Symptom einer Epilepsie.
Katharina ist kein Einzelfall. Schon der russische Dichter Fjodor Dostojewski beschrieb in seinem RomanDer Idiot1 detailliert die Symptome und Gefühle einer seltsamen Krankheit, die seinen Protagonisten Fürst Myschkin wiederholt heimsucht: »Er dachte daran, dass es kurz vor dem epileptischen Zustand eine Pause gab, wo plötzlich mitten in all seinem Kummer, aller see