: Richard Schirach
: Der Mann, der die Erde wog Geschichten von Menschen, deren Entdeckungen die Welt veränderten
: C.Bertelsmann Verlag
: 9783641160586
: 1
: CHF 18.00
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: Natur, Technik
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wir lernen wieder zu staunen.« In den Geschichten, die Richard von Schirach erzählt, geht es um Menschen, deren Dramen, Irrtümer und Enttäuschungen uns oft mehr berühren als ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse. Viele sind heute vergessen wie der englische Exzentriker Henry Cavendish, der im 18. Jahrhundert mit Seilen, Bleikugeln und einem Messrohr das Gewicht der Erde erstaunlich genau herausfindet. Oder der Heidelberger Professor Gustav Robert Kirchhoff, der atemlos hervorstößt: »Das ist entweder Unsinn oder ein ganz großes Ding!« – ehe er mit seinem neu entworfenen Spektralapparat als Erster alle Elemente der Sonne bestimmt. Andere sind weniger vom Glück begünstigt wie Max Planck, der vom Schicksal geprüft wird wie Hiob. Ihm wird alles genommen, was er liebt, bis er gegen Kriegsende im Alter von achtundachtzig Jahren in einem Wäldchen Zuflucht sucht, mit einem Lager aus Laub und nur den Sternen über sich. Immer schwingt in den Geschichten eine Ehrfurcht vor der Schönheit der Schöpfung mit, geht es um die Leidenschaften und Leidensfähigkeit von Menschen, deren Unbeirrbarkeit und Kühnheit des Denkens zu bahnbrechenden Entdeckungen führte.

Richard v. Schirach, geboren 1942 in München, ist Sinologe und Schriftsteller. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. Er war Übersetzer und Herausgeber der Autobiografie des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi. Der Stoff wurde ein internationaler Bestseller und später von Bertolucci unter dem Titel „Der letzte Kaiser“ verfilmt. Schirachs eigene Autobiographie „Der Schatten meines Vaters“ erschien 2005. 2012 veröffentlichte er den Bestseller „Die Nacht der Physiker“.›

Um die Jahrhundertwende ist allerdings das Wissen um Depressionen äußerst dürftig; eine medizinische Hilfe für Boltzmann gibt es nicht. Die mehrfachen Atlantiküberquerungen wirken mit an der Vorstellung, dass Boltzmann, wie ein im Sturm schlingerndes Schiff, Gefahr läuft, auf ein Riff aufzulaufen. Aber wer, wenn er schriee, hörte ihn denn aus der Engel Ordnungen?

Als sich Boltzmann entschließt, sich an das zauberhafte adriatische Sonnengestade zu retten, ist er ein heillos kranker Mann. Der schwarzen Wand, die ihn erdrücken will, hat er nichts mehr entgegenzusetzen.

Die zwei Kulturen

Jahrzehnte nach Boltzmanns Tod reise ich als Münchner Literaturstudent mit einer Freundin in das morbide Triest. Wir wollen dort auf der Suche nach den Spuren von James Joyce und Italo Svevo Gassen und Kaffeehäuser durchstreifen. Danach planen wir einen Abstecher nach Duino, denn wir sind erfüllt von Rilkes Versen und denDuineser Elegien. Die dunklen, rätselhaftenSonette an Orpheus sprechen wir uns imVW vor. Das Dunkel zieht uns an, schlauer werden wir aber nicht daraus. Kein Wunder, denn Rilke selbst hat bekannt, »dass sie weit über mich hinausreichen«.

Hätte mich damals jemand gefragt, ob es irgendetwas Wichtigeres, Tieferes und Befriedigenderes als Literatur gebe, hätte ich, ohne lange zu überlegen, mit Nein geantwortet.

Duino ist einer der malerischsten Orte an der adriatischen Küste. Das Städtchen wird beherrscht von einem wuchtigen Kastell, das sich im Besitz der Familie della Torre e Tasso befindet. Die Schlossherrin zu Rilkes Zeiten, Marie von Thurn und Taxis, war seine Gönnerin, Vertraute und Brieffreundin.

Andachtsvoll nähern wir uns dem auf einer Felsenspitze ausgesetzten Bau. Wir halten inne an einem Marmortisch und blicken auf das Auf und Ab der Wellen der »blauenden« Adria. Hat Rilke nicht vielleicht gerade hier in seinem Traumjahr 1912 seine Feder in das Tintenglas gesenkt, um die ersten Silben seinerDuineser Elegien aufs Papier zu setzen? Schwer vergessen lässt sich der allererste Vers:

»Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?«

Von Boltzmann hatte ich, hatten wir nie gehört. Auch in all den großen, geistreichen Seminaren über Schnitzler, Hauptmann, Nietzsche, Fontane, Hebbel usw. fiel sein Name nicht. Als wir den felsigen Rilke-Weg zum Ufer hinabschlendern, ist uns nicht bewusst, dass ausgerechnet Duino der Schicksalsort Boltzmanns ist. Dieser hatte nichts hinterlassen, als er starb, keinen Abschiedsbrief, keine letzte Botschaft. Das scheint fortzuwirken, denn auch noch Jahrzehnte später erinnert nichts an ihn. Erst 2006, hundert Jahre nach seinem Tod, wurde vor dem ehemaligen Hotel Ples (heute: United World College of the Adriatic) eine Tafel angebracht und seiner gedacht.

Ein oder zwei Jahre nach diesem Rilke-Feiertag gab ich mein Germanistikstudium auf. Ich wollte mehr Welt erfahren, andere Länder, Menschen und Sprachen kennenlernen. Als ich nach einigen Jahren nach Deutschland zurückkam, hatte mich die angelsächsische Literatur verführt. Ich war fasziniert von Bertrand Russell, George Bernard Shaw, Virginia Woolf, Evelyn Waugh. Eines Tages entdeckte ich einen ungewöhnlich welterfahrenen, kenntnisreichen und witzigen Romancier namens Charles Percy Snow. C. P. Snow war nicht nur ein hinreißender Autor, sondern auch ein Wissenschaftler, der in Physik mit einer Arbeit über »Spektroskopie« promoviert hatte. 1959 hielt er eine Rede über zwei Kulturen, die sich verhängnisvollerweise sprachlos gegenüberstehen. Er meint damit die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften. Dieser Vortrag zog scharfe Debatten nach sich.

Als die Diskussion verraucht und längst vergessen war, stieß ich auf die folgende Passage, die mich direkt anzusprechen schien. Schon das bloße Wort Thermodynamik hatte mir immer Unbehagen bereitet, nicht zu reden von einem so unglücklich gewählten Begriff wie Quantenmechanik. Snow knüpft sich die Angehörigen jener literarisch geprägten Kultur vor, denen er immer wieder im Universitätsleben u