1. KAPITEL
„So Ladys, jetzt gehen wir in die zweite Runde. Bitte alle ausziehen.“ Die ältere Dame mit dem strengen Haarknoten und dem noch strengeren Blick hatte tatsächlich die Dreistigkeit, in die Hände zu klatschen.
Sophie verdrehte die Augen. Wofür hielten sich diese Leute? Als Model war sie es zwar gewohnt, wie ein Stück Fleisch bei einer Viehbeschau behandelt zu werden. Aber musste diese Frau sie obendrein herumscheuchen, als seien sie Fünfjährige?
Zugegeben, es war nicht immer einfach, die Aufmerksamkeit der jungen Mädchen auf sich zu lenken. Die neuen zappelten nervös herum, kauten auf ihren Fingernägeln oder fragten zum wiederholten Mal, wo sich eigentlich derLadys Room befände. Die erfahreneren Mädchen dagegen wirkten gelangweilt, unterhielten sich oder warfen verstohlene Blicke auf ihre Smartphones – sofern sie noch genug Kleidung am Leib trugen, um das Handy irgendwo darin zu verstecken.
So waren die meisten Go-sees: ermüdend und letzten Endes vergeblich. Sophie konnte schon gar nicht mehr zählen, wie viele dieser Castings sie in den vergangenen drei Jahren bestritten hatte. Trotzdem waren Go-sees wichtig. Bei diesen Vorstellungsrunden entschied sich, welches Model den nächsten verfügbaren Job erhielt.Job konnte allerdings alles Mögliche bedeuten: von der großen Werbekampagne einer populären Make-up-Marke bis zur Hinterhof-Modenschau für einen Jungdesigner, der danach auf Nimmerwiedersehen auf New Yorks Friedhof der verlorenen Träume verschwand.
Sophie verkniff sich ein Seufzen. Wenn sie die Agentur wieder umsonst hergeschickt hatte, würde sie denen etwas erzählen.
Nein. Das würde sie natürlich nicht. Sie würde jeden Job annehmen, der sich ihr bot – und das mit Kusshand. Schließlich hatte New Yorks unerhörte Mietspreiserhöhung eingeschlagen wie eine Bombe.
Sophie schaute prüfend auf das gerahmte Bild an der Wand hinter der Haarknoten-Frau. Wenn sie einen Schritt beiseite machte, konnte sie in dem Glasrahmen ihre Reflexion sehen und ihre Frisur kontrollieren. Diesen Trick hatte ihr die erste Agentur beigebracht für den Fall, dass keine Spiegel zur Hand waren.
Das kalte Neonlicht warf einen grellen Lichtpunkt auf ihre Stirn und ließ ihre Haut wächsern aussehen, doch das machte nichts. Sophie reckte das Kinn und setzte den arroganten Blick auf, der bei ihren Modelkolleginnen so gefürchtet war.
Auch das war etwas, was ihre erste Agentur sie gelehrt hatte.Egal, wie sie dich behandeln, lass es dir nicht anmerken. Sei stark. Sei herablassend, und sie werden dir aus der Hand fressen.
Zu Anfang war das sehr ungewohnt gewesen. Ein Mädchen vom Land, das dazu erzogen worden war, jeden älteren Menschen auf der Straße höflich zu grüßen, sollte plötzlich alle ignorieren? Sich arrogant geben – und bisweilen sogar unverschämt?
Richtig. Sophie hatte schnell lernen müssen, dass es gar nicht anders ging, wenn man den harten Alltag in New York überleben wollte.
Die Haarknoten-Lady ließ die Mädchen nun vor einem Tisch antanzen. Es schien, als habe sie ihren Liebling bereits gefunden: ein blondes Mädchen, dessen Oberschenkel man mit einer Hand umfassen konnte.
Na toll, dachte Sophie. Und dafür saß ich eine Stunde in der U-Bahn.
Wozu war sie überhaupt nach New York gezogen? In dieser weitläufigen Stadt benötigte man für jede Strecke empörend viel Zeit. Da Sophie auf die U-Bahn angewiesen war, brauchte sie Stunden, um zu Go-sees, Castings und Werbe-Jobs zu fahren. Und bis zu ihrer neuen Agentur war sie den halben Tag unterwegs.
Im Winter hinterließen die heftigen Temperaturschwankungen zwischen Str