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Alice konnte sich ein breites, zufriedenes Grinsen nicht verkneifen, als sie den Hörer auflegte. Bei der Ausschreibung des Emirats Katar war die Beratungsagentur, für die sie arbeitete, in die engere Auswahl gekommen. Die Qatar International Promotion Agency hatte sechs Monate zuvor diskret bekanntgegeben, dass sie nach einem westlichen Partner suchte, um das Image des Landes aufzupolieren und den Verdacht der Finanzierung desIS in Vergessenheit geraten zu lassen.
Nur noch fünf Agenturen waren jetzt in der Vorauswahl: zwei amerikanische, eine spanische, eine deutsche und ihre französische. Die Chancen, den Auftrag zu ergattern, standen also eins zu fünf, und Alice glaubte felsenfest daran.
Sie atmete tief ein, streckte sich in ihrem Bürostuhl nach hinten und drehte sich zu dem großen Fenster, in dem sich das Bild einer unternehmerischen Frau in einem strengen Kostüm spiegelte, das einen deutlichen Gegensatz zu ihren langen, leicht wilden kastanienbraunen Locken bildete. Sie schaltete die Schreibtischlampe aus, und ihr Bild verschwand. Im dreiundfünfzigsten Stock des Tour Montparnasse hatte man das Gefühl, als hinge man im Himmel, einem immer dunkler werdenden Abendhimmel, in dem ein paar Wolken unschlüssig herumdümpelten. In der Stadt zu ihren Füßen ging es lebhaft zu, und in den unzähligen Gebäuden, die sich bis zum Horizont erstreckten und in denen Millionen von Menschen lebten, leuchteten überall nach und nach die Lichter auf. Wie immer zur Feierabendstunde waren die Straßen vollgestopft mit Autos, und auf den Gehsteigen wimmelte es nur so von kleinen, bedeutungslosen Punkten, die sich im Zeitlupentempo vorwärtsbewegten. Lächelnd betrachtete Alice die unter ihr liegende Welt. So viele Menschen, die es zu überzeugen galt, Herausforderungen, denen sie sich stellen musste, und Spannendes, das sie erwartete … Seit sie die Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung bei Toby Collins besuchte, hatte sie so viel Selbstvertrauen hinzugewonnen, dass sie trotz des herrschenden Konkurrenzkampfes mit ihrer Arbeit zufrieden war.
Sie atmete erneut tief ein und entspannte sich. Um diese Zeit war Théo mit der Tagesmutter zu Hause. Bei Paul würde es spät werden, wie jeden Abend. Vielleicht schlief sie ja schon, wenn das Taxi ihn endlich vor ihrem Wohnblock absetzte. Wie kämen die Nachttaxen nur über die Runden, wenn es keine Anwaltskanzleien gäbe?
Es wird Zeit, dass wir Urlaub machen, dachte sie, dass wir mal wieder etwas Zeit füreinander haben. Wenn ihr Team den Katar-Vertrag an Land zog, würde sie eine Gehaltserhöhung bekommen, so viel stand fest. Oder eine ordentliche Prämie. Die könnte man ihr nicht ausschlagen. Und damit könnte sie dann eine schöne Reise mit der ganzen Familie machen. Wie wäre es zum Beispiel mit Australien? Australien … ein Jugendtraum, den sie noch nicht verwirklicht hatte.
Das Telefon klingelte. Es war ihr Vater.
»Ich bin bei der Arbeit, Papa.«
»Liebes, kommst du dieses Wochenende nach Cluny?«
»Ja, ganz bestimmt.«
»Das freut mich aber! Kommt Paul auch mit?«
»Wenn er nicht zu viel Arbeit hat und ausnahmsweise mal nicht bei seinen Mandanten im Gefängnis in Fresnes oder Fleury-Mérogis vorbeischauen muss. Und wenn er seinen Zeichenkurs am Samstag ausfallen lässt. Abgesehen von den Gefängnissen ist das seine einzige Leidenschaft.«
»Grüß ihn von mir«, sagte ihr Vater lachend. »Ach, und heute Morgen habe ich Jérémie getroffen. Er sieht nicht sonderlich gut aus. Seine Mutter macht sich Sorgen, sie redet andauernd über ihn. Sie würde sich sehr freuen, wenn du dieses Wochenende mal nach ihm sehen könntest.«
Jérémie ging es nicht gut? Merkwürdig, dass ihr das bei ihrem letzten Besuch im Burgund gar nicht aufgefallen war. Jérémie … Seine schlanke Gestalt, die dunkelblonden Haare, die unglaublich hellblauen Augen und diese weichen, sanften Gesichtszüge, die so viel Güte ausstrahlten. Ihre gemeinsame Kindheit in Cluny … Die Verfolgungsjagden durch die Ruinen der Abtei, die vielen Wetten, die sie miteinander abgeschlossen hatten und bei denen es immer um eines ging: ein Küsschen an Silvester. Ihr schallendes Gelächter zur Erntezeit in den We