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Punkt sieben Uhr in der Früh sprang der Radiowecker an. »Hier ist Radio Hamburg mit den Nachrichten des Tages …«, dröhnte die Stimme eines schrecklich gutgelaunten Jünglings durch ihr Schlafzimmer.
Natürlich war Lizzi schon lange wach, aber sie wollte nicht mitten in der Nacht aufstehen, wie die anderen Senioren im Haus es taten. Alte Leute stehen früh auf, junge Leute schlafen länger. Sie fand, dass sie mit siebzig Jahren noch recht jung war. Also blieb sie jeden Morgen so lange im Bett liegen, bis ihr Radiowecker losplärrte. Dies war ein Luxus, den sie nach fast fünfzig Jahren hinter der Theke von Schlachter Schlüter mit jeder Faser ihres alt werdenden Körpers genoss. Wohlig seufzte Lizzi.
»Der Beginn des Prozesses gegen den früheren Vorstandsvorsitzenden der Hansebank Hamburg, Jens Jessen, verschiebt sich erneut«, erklärte der Sprecher, während Lizzi sich mit einem leisen Stöhnen aufsetzte. Sie schlüpfte in ihre Hauspantoffeln. Dann stellte sie sich neben das Bett, um mit der Morgengymnastik zu beginnen. »Ein vom Gericht eingesetzter Gutachter bestätigte den schlechten Gesundheitszustand des Angeklagten.« Lizzi hob und senkte die Arme bis zur Schulter, ließ sie kreisen, neigte sich mit dem Oberkörper ein wenig zur rechten Seite, dann zur linken und lauschte dem Knacken ihrer Gelenke. »Wie heute Morgen bekannt wurde, erwägen Jessens Anwälte, einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens zu …« Zum Schluss deutete Lizzi noch ein paar Kniebeugen an. Gymnastik musste sein, außerdem ersparte ihr der Frühsport den Gang ins hauseigene Fitnesscenter oder gar in die Zipperleinstation von Doktor Hoffstätter im Erdgeschoss.
Lizzi nahm die Bürste und strich exakt einhundert Mal durch ihre langen weißen Haare, die sie zu einem dicken Zopf flocht.
Schön sollte es heute werden, versprach der Radiomoderator und kündigte sogar frühsommerliche Temperaturen an.
Das gefiel Lizzi, so konnte sie auf ihrem Balkon frühstücken und dabei den Blick auf die Elbe genießen. Diese Aussicht war der Grund, warum sie hier und nirgends anders wohnen wollte. Schon seit ihrer Geburt hatte sie immer in der Nähe des grauen Stroms gelebt; erst mit ihren Eltern in der Palmaille 10, dann mit Willi im vierten Stock am Fischmarkt. Als Kinder badeten sie am Strand von Övelgönne, die Schiffe, die Richtung Hafen zogen, zum Greifen nah. Später dann schlenderte sie mit Willi bei Mondschein Hand in Hand den Elbwanderweg entlang. Sie erinnerte sich an den Fisch, den sie unten an den Landungsbrücken von den Kuttern gekauft hatten. Heringe, eine Mark fuffzig das Kilo. Das war in jener Zeit, als Willi es kurzzeitig mit ehrlicher Arbeit versucht hatte, drüben bei Blohm& Voss, wo sie Schiffe bauten.
Nein, ein Leben ohne die Elbe wollte sich Lizzi nicht vorstellen. Und dass in letzter Zeit immer öfter diese eleganten weißen Kreuzfahrtschiffe vorbeikamen, letztens sogar die Queen Mary 2, tröstete Lizzi sogar über die unverschämt hohe Miete in der Seniorenresidenz Hanseatica hinweg.
In der klitzekleinen Küche, die man hier »Pantry« nannte, ließ Lizzi Wasser in einen Kessel laufen. Dann nahm sie den Porzellanfilter und die Filtertüten aus dem Schrank und griff zur Kaffeekanne. Sie begann sich einen guten, starken Kaffee zu machen. Schon bald zog der würzige Geruch in jeden Winkel ihres kleinen Appartements.
Lizzi schloss die Augen und sog den herben Duft ein. Dieser Filterkaffee war nicht so ein schlaffes Süßzeug aus der Dose oder gar aus einem Automaten. Dieser Kaffee war Tradition und Kunst in einem. Man trank ihn im Sitzen und nicht aus einem Pappbecher im Laufen. Für diesen Kaffee musste man sich Zeit nehmen und Muße haben. Andere Leute meditierten bei obskuren Gurus oder sprangen halbnackt an Gummibändern von Brücken. Lizzi kochte Kaffee.
Dazu schmierte sie sich jetzt eine Scheibe Br