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In seinem Schlafzimmer. Hund schlurfte auf dem Boden daher und begrüßte ihn schnuppernd. Steven tätschelte ihn traurig. Ein Hund war ein Symbol, im Fernsehen und der Welt da draußen bedeutete er immer so vieles. Er stand für Spaziergänge auf sonnigen Wiesen, sorgloses Lachen, Arm in Arm mit einer leicht geschürzten Dame, die mit einem fröhlich glucksenden Kind Ball spielte. Aber Hund wusste kaum etwas von Sonnenlicht. Der arme Teufel von einem Hund hatte sein ganzes Leben in der Wohnung verbracht, ohne ihren Schatten auch nur einmal zu entkommen.
Draußen stapfte etwas Schweres durch den Flur – das Muttertier kam aus dem hinteren Teil der Wohnung und schleppte sich grunzend in die Küche wie ein Schwein, das sich durch einen Misthaufen wühlt. Er sah sie genau vor sich – Kopf nach vorn gesenkt, Nasenlöcher gebläht, Spucke zog sich von ihrem Kinn zu dem dreckigen Blumenmusterstoff über ihrer Brust. Und die Kehrseite – ein Fleck feuchten Menstruationsblutes klebte ihr Kleid an dem wogenden Arsch und den Rückseiten der Schenkel fest, hängende Schultern, bloße, fleckige Waden, so geschwollen wie alles an ihr. Die Aura ihres Hasses spürte er selbst durch die abblätternden Wände und die geschlossene Tür. Er fragte sich, ob sie den seinen spürte, der ebenso stark war.
Das war nie anders gewesen. Sie verabscheuten einander seit dem Augenblick, als sie ihn aus ihrer Fotze gedrückt hatte. In der zugemüllten Küche hatte sie ihn auf dem Tisch, an dem sie heute noch aßen, aus dem blutigen Schlamassel zwischen ihren Beinen gezogen und verflucht. Und er hatte ihr, da er spürte, dass es sein ganzes Leben lang noch schlimmer kommen würde, gleich in die Augen gepisst.
Steven verließ die Wohnung zum ersten Mal, als er fünf wurde. Da war ihm schon klar, dass er allein nicht überleben könnte, auch wenn sein zunehmend schweres Herz ihm sagte, dass er weglaufen sollte, so schnell ihn seine kleinen Beine trugen. Wenigstens vorläufig war das Muttertier der Garant für sein Überleben. Doch von dem Moment an, als sich ihm Möglichkeiten eröffneten, zählte sein Kinderhirn die Monate, bis er erwachsen werden und fliehen könnte. Fortan steckte in jedem Jahr, das verstrich, ein weiteres Jahr, das ihm Eigenständigkeit und Freiheit bringen würde.
Aber es kam ganz anders. Als sein 13., 14. und 15. Jahr verstrichen (und alle anderen), musste er feststellen, dass er irgendwie zu lange gewartet hatte, auch wenn sein Hass auf das Muttertier und sein beengtes, dröges Leben nie kleiner wurde. Die Furchtlosigkeit des Fünfjährigen war in einem Maß verkümmert, dass er sich längere Zeiträume außerhalb der vier Wände ihrer Wohnung gar nicht mehr vorstellen konnte. In den Jahren, in denen er erwachsen wurde, hatte das Muttertier ihm sämtliche prägenden Merkmale, die ihn möglicherweise selbstständig machen konnten, so sehr ausgesaugt, dass die Vorstellung, einfach aus der Wohnung auszuziehen, lächerlich wurde.
Steven blieb solange er konnte in seinem Zimmer, saß auf dem Bett und streichelte geistesabwesend Hund, während Fernsehbilder wie die Verheißungen von Huren in sein Zimmer flackerten. Aber letztendlich ertönte es doch, wie erwartet – dieses zweifach verstärkte Horrorfilmkreischen, mit dem sie die Zügel ihrer Alleinherrschaft straff zog.
»Steven!«
Er bekam eine Gänsehaut.
»Steven, Essen ist fertig!«
Wenn er noch länger wartete, würde sie ihn holen kommen, also ging er auf den Flur und schlurfte zur Küche. Hund kroch grunzend hinter ihm her.
Er merkte sofort, dass sich etwas verändert hatte, dass ihr Verhalten von der Norm abwich. Kleinigkeiten – wie sie dort stand und ihn ansah, wie sie ihre Fettwülste fast unmerklich anders ausrichtete, wie sogar der Blutfleck an der Rückseite ihres Kleides eine geringfügig andere Form hatte … tausend Hinweise, die den Beginn einer neuen Phase des Elends andeuteten. Steven ging misstrauisch zum Tisch und setzte sich, behielt sie aber genau im Auge.
»Du wolltest Mama doch nicht warten lassen, oder?«
»Ich war müde.«
»Na klar doch. Hier.«
Sie stellte etwas vor ihn. Steven sah es fassungslos an – ein Stück