: Ece Temelkuran
: Stumme Schwäne
: Hoffmann und Campe
: 9783455814255
: 1
: CHF 9,70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Ein unterhaltsamer und zugleich bedeutender Roman.« WDR 3 Im August 1980 macht nicht nur die Hitze den Menschen in Ankara zu schaffen. Auch politisch brodelt es: In der Türkei herrscht Bürgerkrieg, Menschen sterben auf offener Straße, bald wird das Militär putschen, um das Land »zu retten«. Diesen chaotischen Sommer verbringen die Kinder Ay?e und Ali gemeinsam. Sie könnten kaum unterschiedlicher sein: Ay?e kommt aus einem behüteten Elternhaus, ist quirlig und fröhlich, Ali, der introvertierte Sohn der kurdischen Putzfrau, lebt in einem Elendsviertel.  Die beiden haben eine gemeinsame Mission: Sie wollen die Schwäne aus dem Schwanenpark retten, die der Befehlshaber der Armee in seinen privaten Garten bringen lassen will. Damit sie nicht entfliehen, sollen den Schwänen die Flügel gestutzt werden. Die Erwachsenen haben andere Sorgen, doch Ay?e und Ali haben sich ihr Gefühl für Recht und Freiheit bewahrt. Und am Ende dieses Sommers ist nichts mehr wie zuvor.

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Sachbücher Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur (2019), Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

Sevgi Bakar (geb. İzmirli)


»Auch wenn man sich nach Jahren wiedertrifft, fängt man doch trotzdem mit ›Wie geht’s dir?‹ an. Der eine sagt ›Gut‹, der andere ›Auch gut‹. Man denkt immer, es liefe wie im Film. Dabei enthält das Leben – unser Leben – so viele Szenen, die rausgeschnitten werden müssten, Önder.«

Die Tischdecken des Restaurants Hülya leuchten weiß im Sonnenlicht.

Önder versucht ein Lachen von1971 wiederzubeleben. »Da kommen einem ja die Tränen! Fast könnte man meinen, wir wollten den Barsch hier nicht essen, sondern zu Grabe tragen.«

Mir ist nicht zum Scherzen zumute, also frage ich: »Weshalb bist du hier, Önder?«

Ich presse die Lippen aufeinander, als wäre es der Mund, mit dem man weint. Önder scheint meine Hand berühren zu wollen, hält sich aber stattdessen an seinem Rakıglas fest und blinzelt in die Sonne. Er greift nach einem gelben Briefumschlag, der auf dem Stuhl neben ihm liegt. »Würdest du den hier für mich verwahren?«

Der Umschlag liegt jetzt neben dem Barsch. Jemand anderes hätte vielleicht gefragt: »Was ist denn drin?«

Ich sage: »Wo soll ich ihn verwahren?«

»Im Parlamentsarchiv.«

Da sehe ich ihm zum ersten Mal direkt in die Augen. Önder kann ich nur anschauen, wenn es um ernste Angelegenheiten geht, um Dinge, die der Geheimhaltung bedürfen. Bevor wir lernen konnten, einander verliebte Blicke zuzuwerfen, haben wir beide schon im Gefängnis gesessen. »Für wie lange?«

»Bis diese Epoche vorüber ist.«

Nun bin ich diejenige, die sich am Rakı festhält, in die Sonne blinzelt und den Blick in die Ferne schweifen lässt. »Diese Epoche wird nicht vorübergehen, Önder. Und falls doch, so werden wir es kaum erleben.«

»Doch, das werden wir, und ich erkläre dir auch gleich, wieso.«

Önder lacht wissend, ehe er sich dem Barsch widmet. Wie geschickt er ihn zerteilt! Welche Flüche er ausstößt, wenn er gefoltert wird, wie er bei Versammlungen spricht, wie er auf Demos Slogans skandiert, wie er Zeitschriften verkauft, wie er weint, wenn er den Abschiedsbrief liest, den ihm ein Freund vor der Hinrichtung geschrieben hat – das alles weiß ich. Aber wie er einen Fisch filetiert?

»Der faschistische Putsch wird kommen, Sevgi.«

So also trennt er ihm den Kopf ab …

»Was dann aus mir wird, steht in den Sternen. Als du damals plötzlich verschwunden bist …«

Er weiß sogar, wie man die Bäckchen herauslöst; eines lässt er über sein Messer auf meinen Teller gleiten.

»Nachdem du dich … entschieden hattest zu … zu heiraten, hat sich vieles verändert, es ist härter geworden. Erinnerst du dich an Nasuhi? Der sagte nach dem Putsch von1971: ›Eines Tages werdet ihr nicht mehr die Zeit finden, eure Freunde zu Grabe zu tragen.‹«

Er entfernt dem Fisch das Rückgrat, ohne dass Fleisch daran hängen bleibt.

»Vielleicht bin ich einfach alt geworden. Damals waren wir beide ungefähr gleich alt, erinnerst du dich?«

»Das sind wir doch immer noch.«

»Das würde ich nicht unbedingt sagen, meine liebe Sevgi.«

Mit einem einzigen Possessivpronomen kann man also einen Menschen töten. Ihm das Rückgrat entfernen, ohne dass Fleisch daran hängen bleibt.

»Wenn du mich fragst, altern die, die sich in Sicherheit bringen, langsamer als die, die sich ins Feuer werfen. Oder was meinst du?«

Natürlich, irgendwie muss er sich ja dafür rächen, dass ich ihn damals im Gefängnis sitzen gelassen und Aydın geheiratet habe. Wie er mir jetzt wohl die B