Vorwort
Die europäische Flüchtlingskrise mit ihrem Höhepunkt in den Monaten September 2015 bis März 2016 scheint vielen Beobachtern unterdessen weitgehend behoben zu sein. Die Zahl der Immigranten ist deutlich zurückgegangen, die Schließung der Balkanroute und die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei wirken. Die Lage scheint sich zu beruhigen, und die politischen Aufgeregtheiten lassen nach. Man darf sich jedoch von dieser Entwicklung nicht täuschen lassen. Die Fluchtursachen bestehen fort, die Situation in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten hat sich nicht beruhigt, und Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara hoffen darauf, ihr Land verlassen zu können, wenn sich die politische, ökonomische und soziale Lage nicht deutlich bessert. Es ist zu erwarten, dass sich die Versuche, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, wieder verstärken werden und der Migrationsdruck eher zu- als abnehmen wird.
Die Bundesregierung hat unterdessen eine Kehrtwende vollzogen. Von »Willkommenskultur« ist kaum noch die Rede, Abschiebungen werden ausgeweitet, und das Aufenthaltsrecht wird restriktiver gehandhabt. In den USA beabsichtigt der frisch gewählte Präsident, eine Mauer zu Mexiko zu bauen, viele Millionen illegale Einwanderer auszuweisen und die Einreise aus einer Reihe muslimischer Staaten vollständig zu unterbinden. Die Einwanderungspolitik ist weltweit zu einem zentralen Thema geworden.
Der Streit um Globalisierung, um Freihandel und Sozialstaatlichkeit verschärft sich in den westlichen Ländern, diesseits und jenseits des Atlantiks. Der Rechtspopulismus setzt auf die Mobilisierung der einwanderungskritischen Bevölkerung, liberale Kräfte halten dagegen und betonen die Einheit von wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung, sie befürworten nicht nur den freien Fluss der Güter und Dienstleistungen, sondern auch einen von staatlichen Grenzen nicht beschränkten Arbeitsmarkt.
In dieser Situation ist es notwendig, über die Rolle staatlicher Grenzen neu nachzudenken und die ethischen Aspekte von Migration und Einwanderungspolitik zu diskutieren. Die politische Praxis und der öffentliche Diskurs befinden sich ganz offenkundig in einer Orientierungskrise, die sich zu einer Gefährdung der liberalen und sozialen Demokratie auswachsen kann, wie die Wahlerfolge rechtspopulistischer Kräfte belegen.
Die Flüchtlingskrise zwingt zu gedanklicher Klarheit, die nur zu haben ist, wenn man sich von lieb gewonnenen Dogmen verabschiedet. In diesem Essay soll eine Brücke zwischen Ethik und Politik geschlagen werden, die im günstigsten Fall dazu beiträgt, die gegenwärtige Orientierungskrise zu beenden.1 Wer sich auf diese Brücke begibt, geht keinen einfachen Weg. Man kann sie nur betreten, wenn man bereit ist, die eigenen Vorurteile einer kritischen Prüfung zu unterziehen und empirische wie normative Fakten anzuerkennen.
Es war beeindruckend zu sehen, in welchem Maße die einheimische Bevölkerung in Deutschland während der Flüchtlingskrise Hilfsbereitschaft zeigte. In meiner Heimatstadt München, für einige Monate Ende 2015/ Anfang 2016 das Nadelöhr der Immigration, war sie besonders ausgeprägt und die Gegenbewegung aus PEGIDA und Nahestehenden auffällig schwach. Ohne die Hilfe der zahlreichen Freiwilligen, ohne die Spendenbereitschaft, die Pflegeeltern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge etc. wäre die im Ganzen beachtlich humane Aufnahmepraxis in Deutschland in jenen Monaten nicht zu bewältigen gewesen. Diese »Willkommenskultur« bleibt ein großes Verdienst von Staat und Zivilgesellschaft. Dies anzuerkennen, steht nicht im Widerspruch damit, dass Migration in dieser Form und diesem Umfang nicht das geeignete Mittel ist, um auf Armut und Not zu reagieren, und dass eine Politik der offenen Grenzen nicht nur das aufnehmende Land längerfristig vor große Probleme stellen, sondern auch erfolgreichere Methoden der Bekämpfung von Not und Elend im globalen Süden blockieren würde.
Es ist ein Skandal, dass nach wie vor über zwei Milliarden Menschen der Erdbevölkerung in extremer Armut verharren, unter Hunger und Unterernährung, fehlender medizinischer Versorgung, fehlenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten leiden2, obwohl die Weltwirtschaft boomt und es mit e