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Nach einer weiteren Stunde war das Tatortteam versammelt.
Rund um die lang gestreckte Fläche des alten, schon seit langem aufgelassenen Friedhofs zwischen Piusallee, Bohlweg und Karlstraße zog sich das rotweiße Absperrband. Die fahle, in kränkliches Weiß gekleidete Morgensonne hatte längst vor dem zähen Bodennebel kapituliert, so dass unsere Kollegen mit ihren weißen Schutzanzügen in dieser fast gespenstischen Szenerie wie die Besatzung eines intergalaktischen Fahrzeugs wirkten. Energisch rieb ich mir die Müdigkeit aus den Augen, und die schemenhaften Raumfahrer sahen wieder aus wie normale Kriminaltechniker. Auch bei der leblosen Gestalt auf der taufeuchten, von abgefallenen Blättern gesprenkelten Rasenfläche handelte es sich nicht um eine lebensgroße Puppe, sondern um eine ermordete Frau. Die Frage, ob die Würgemale am Hals die Todesursache waren oder ihre inneren Verletzungen, würde erst eine Obduktion beantworten können. Bei den Angaben zur Todeszeit hielt sich Dr. Kerner vom Institut für Rechtsmedizin ebenfalls vorsichtig zurück: am späten Abend oder in dieser Nacht; so viel stand fest.
Bis weit nach Mitternacht hatten Franz und ich einen größeren Freundeskreis bewirtet, wir hatten uns viel Zeit miteinander genommen, in der optimistischen Annahme, bis zehn Uhr ausschlafen zu können, weil Samstag war. Jetzt tanzten weiße Punkte vor meinen Augen und die Kehle kratzte wie Pergamentpapier. Kollege Max Lückmann, der unter unseren Gästen gewesen war und jetzt schweigsam neben mir stand, hatte ganz kleine, schlaftrunkene Augen, und nach seinem Strubbelkopf zu urteilen, war er ebenfalls aus dem Bett gleich in Kleidung und Schuhe gefahren. In Unkenntnis der rauen Witterung hatte er nach einer leichten Wildlederjacke und einem dünnen Schal gegriffen, und ein extrascharfer Kaugummi musste die Zahnbürste ersetzen. Als er um ein Papiertaschentuch bat, reichte ich ihm ein Blatt Küchenrolle aus dem Reservoir meiner Umhängetasche - wenig kniggetauglich, an nass-nebeligen Verbrechensschauplätzen allerdings unschlagbar.
Kerner setzte die Leichenschau fort, und ich fühlte eine vage Dankbarkeit über diesen Aufschub. Hartnäckig mied mein Blick die tote Frau, er wanderte über den Rhododendron, ohne jedoch Halt an seinen wie winzige Pinienzapfen geformten Knospen zu finden. Eine große Schwarzdrossel schoss aus dem Unterholz hervor, rannte zielstrebig über die Rasenfläche und zerrte einen Regenwurm aus dem Boden. Der Wurm wand und krümmte sich, bevor er stückweise im Vogelschnabel verschwand. Gleich würde der Räuber zufrieden auf einen Ast flattern und triumphierend zu singen beginnen, bis die Anstrengung seinen kleinen Körper durchlief wie eine lustvolle Welle. Ich spürte wieder jene Mischung aus Hilflosigkeit und Ekel, die gewaltsam gestorbene Lebewesen in mir auslösten; ein fast archaisches Entsetzen vor jedem brutalen Tötungsakt. Als Vierjährige war ich Zeuge des grausamen Spiels unserer Nachbarkatze mit einer Drossel geworden. Am liebsten wäre ich weggelaufen, doch ich lag mit verstauchtem Fuß im Bett, und der ungleiche, hässliche Kampf lief unmittelbar vor meinen Augen an der Terrassentür ab. Dieses heimtückische Loslassen und Fangen, die Jagdlust und Gier der schwarzen Katze und die erbärmlichen Fluchtversuche des Vogels lösten eine Panik aus, die mir in der Kehle hochschoss wie eine scharfe Säure. Vergeblich stopfte ich mir die Finger in die Ohren, immer unflätiger polterte die fette Katze in ihrem Tötungstaumel gegen die hölzerne Balustrade, und der Vogel schrie. Als endlich Stille eingekehrt war, wirbelte der Wind einen Trauerzug schwarzer Federn über die Terrasse