Kapitel eins
ein leereres, erfüllteres Leben
Jede Sünde ist ein Versuch, der Leere zu entfliehen.
Simone Weil, Schwerkraft und Gnade
Es ist August. Glutrot steht die Sonne am Himmel. Der Tag, an dem diese Geschichte beginnt, ist der Tag meiner Geburt. Ich beginne zu leben.
Ich komme aus dem Leib meiner Mutter, durchbreche diesen Ring aus Feuer und kämpfe mich heraus. Zum ersten Mal entfalten sich meine Lungen und füllen sich mit der Luft dieser Erde. Wie jeder kleine Mensch komme auch ich mit geballten Fäustchen auf die Welt.
Ich hatte ihren runden Bauch ausgefüllt, nun lasse ich sie leer zurück – blutend. Verschmiert und weinend werde ich ins Licht gehoben.
Sie geben mir einen Namen.
Gibt es einen kürzeren Namen? Nur drei Buchstaben, nicht einmal ein schmückendese am Ende – „Ann“ werde ich genannt, ein Trio aus Strichen und Kurven – mein Name.
„Voller Gnade“ bedeutet er.
Doch davon bin ich weit entfernt.
Wie lebt man voller Gnade? Wann ist man vollkommenlebendig?
Sie waschen meine klebrige Haut. Ich atme und wehre mich. Ich schlage um mich.
Seitdem, jahrzehntelang, mein Leben lang, habe ich nicht aufgehört, mich zu wehren, um mich zu schlagen und zu kämpfen. Und dennoch bleibe ich … soleer. Ich lebe nicht das, was das Christentum mich lehrt.
Vielleicht war es anders, in den ersten Jahren, als mein Leben sich vorsichtig entfaltete, als ich – mit zwei hohlen, aneinandergelegten Händchen – offen war für alles, was Gott in mich hineinlegen wollte. Aber an diese Jahre erinnere ich mich nicht. Das Gedächtnis wird durch traumatische Erlebnisse wachgerüttelt, sagt man. Ich war vier. In diesem Jahr, als sich die Blutlache bildete und meine Schwester starb, verschloss ich mich, genau wie alle anderen, gegenüber der Gnade.
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Durch das Fenster neben der Haustüre beobachte ich meine Eltern, die fassungslos am Boden knien, und ich frage mich, ob mich meine Mutter damals, als sie mir meinen Namen gegeben hat, ebenso in ihren Armen gehalten hat wie jetzt meine tote Schwester.
Im fahlen Novemberlicht sehe ich meine Eltern auf den Stufen der Veranda, wie sie den eingehüllten Körper in ihren Armen wiegen. Ich presse mein Gesicht gegen die Scheibe des Küchenfensters, spüre das kalte Glas, beobachte sie. Ihre Lippen formen Gebete, doch sie sind anders als unsere Gutenachtgebete, es sind Schreie zu Gott, ein Flehen um Auferweckung, Wiederherstellung, Wunder. Nichts geschieht. Nur die Polizei kommt. Berichte werden geschrieben, rot sickert das Blut aus dem Bündel. Ich kann es heute noch sehen.
Die Erinnerung verblasst nicht.
Die Farbe ihres Blutes hat sich mir eingebrannt, doch mehr noch ihr Anblick, sie dort, am Boden, totgefahren. Auf kurzen Beinchen ist sie den Weg entlanggelaufen, hinter einer Katze her. Ich sehe den Fahrer des Lieferwagens, er sitzt am Küchentisch, hat seinen Kopf in den Händen vergraben und schluchzt. Er hat sie nicht gesehen. Aber ich sehe sie, immer noch, ich kann den Anblick nicht vergessen. Ihr Körper, klein und zerbrechlich, zerquetscht unter