Erstes Kapitel
An einem Sonntagmorgen im Monat Mai erhob sich Emanuel Quint von seiner Lagerstätte auf dem Boden des kleinen Hüttchens, das der Vater mit sehr geringem Recht sein eigen nannte. Er wusch sich mit klarem Gebirgswasser, draußen am Steintrog, indem er die hohlen Hände unter den kristallenen Strahl hielt, der aus einer hölzernen, vermorschten und bemoosten Rinne floß. Er hatte die Nacht kaum ein wenig geschlafen und schritt nun, ohne die Seinen zu wecken oder etwas zu sich zu nehmen, in der Richtung gegen Reichenbach. Ein altes Weib, das auf einem Feldweg ihm entgegenkam, blieb stehen, als sie von fern seiner ansichtig wurde. Denn Emanuel ging mit seinem langen, wiegenden Schritt und in einer sonderbar würdigen Haltung, die mit seinen unbekleideten Füßen, seinem unbedeckten Kopf sowie mit der Armseligkeit seiner Bekleidung überhaupt im Widerspruch stand.
Bis gegen die elfte Stunde hielt Emanuel sich fern von den Menschen in den Feldern auf. Alsdann überschritt er die kleine Holzbrücke, die über den Bach führte, und ging geradezu bis zum Marktplatz des kleinen Fleckens, der sehr belebt war, weil die protestantische Kirche sich eben leerte. Der arme Mensch stieg nun auf einen Stein, wobei er sich mit der Linken an einem Laternenpfahl festhielt, und nachdem er sich so und durch Zeichen der Menge bemerklich gemacht hatte und alles erstaunt, belustigt oder neugierig herzukam oder wenigstens von fern herübersah, begann er mit lauter Stimme zu sagen: »Ihr Männer, lieben Brüder, ihr Frauen, liebe Schwestern! Tut Buße! Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«
Diese Worte, denen viele andere nachfolgten, ließen sogleich erkennen, daß man es mit einem Narren oder Halbnarren zu tun hatte, von einer so eigentümlichen Art, wie sie in dieser weitgedehnten Talgegend seit langem nicht vorgekommen war. Die guten Leute verwunderten sich. Aber als der einfältige und zerlumpte Mensch nicht aufhörte zu reden und seine Stimme mehr und mehr über den ganzen Marktplatz erschallen ließ, da entsetzten sich viele über den unerhörten Frevel des Landstreichers, der gleichsam das Heiligstein den Schmutz der Gasse zog, liefen aufs Amt und zeigten es an.
Als der Amtsvorsteher, mitsamt dem Gendarmen, auf dem Markt erschien, herrschte dort unglaubliche Aufregung: die Hausknechte standen vor den Gasthäusern, die Kutscher der Droschken schrien einander mit lauter Stimme zu und wiesen mit den Stöcken ihrer Peitschen auf einen Knäuel Menschen, den Quint, predigend, überragte und der mit jeder Sekunde zunahm. Die Jungens gaben einander Zeichen durch laute Signalpfiffe, und wüstes Gebrüll und Gelächter übertönte zuweilen auf lange die Stimme des seltsamen Predigers, der