Kapitel 1
05. Dezember 2012, 23:55
Die großen gläsernen Türen der Ratio-Bank in der Solmsstraße öffneten sich. Hans Büchner trat in die kalte Nachtluft, atmete tief ein und wieder aus, um dann die drei Stufen bis zu dem Parkplatz, auf dem sein Auto stand, herabzusteigen. Er gönnte sich ein paar Sekunden der Ruhe, um die weihnachtlich geschmückte Skyline Frankfurts zu begutachten. Die Vorweihnachtszeit mochte er am liebsten. Allerdings behielt er dies für sich, um sein Image als knallharter Banker zu bewahren. Büchner war Mitglied des Vorstands der 1980 gegründeten deutschen Filiale einer niederländischen Bank. Der attraktive Endfünfziger hatte volles, annähernd schwarzes Haar. Er war mittel groß und wirkte sportlich.
Am heutigen Abend, oder besser in der heutigen Nacht, hatte er wieder eine seiner Besprechungen gehabt. Normalerweise endeten diese Sitzungen gegen zweiundzwanzig Uhr, aber Büchner führte nach dem offiziellen Ende meistens eine zusätzliche Besprechung mit seiner Sekretärin. So verhielt es sich auch in dieser Nacht. Seine Sekretärin war Ende zwanzig und konnte mehr äußerliche als innerliche Attribute auf der Habenseite verbuchen. Und dementsprechend sahen diese Besprechungen aus.
Fast jedes Mal versprach ihr Büchner, dass er seine Frau verlassen würde, in Wahrheit dachte er überhaupt nicht daran. Vor einer Woche hatte er entschieden, dass er sie in einem Monat feuern würde. Er brauchte Mal wieder Frischfleisch. Bei dem Gedanken musste er lachen. Frischfleisch!
Sie zu entlassen brachte einen zweiten, nicht zu vernachlässigenden Vorteil, denn seine Frau schien Verdacht geschöpft zu haben. Also war es an der Zeit, die Sekretärin zu wechseln und seiner Frau einen neuen Pelzmantel zu kaufen. Bei Pelzen wurde Frau Büchner immer handzahm und er konnte für das nächste halbe Jahr wieder tun und lassen, was er wollte.
Büchner zog den Schlüssel seines neuen 7er BMW aus der Tasche und drückte die Öffnen-Taste an der Fernsteuerung. Mit einem dezenten Surren wurde die Verriegelung der Türen gelöst. Er drückte eine weitere Taste, die den Kofferraum aufschwingen ließ. Als Büchner den Koffer mit seinen Unterlagen hineinlegte, bemerkte er eine Bewegung hinter sich. Er drehte sich um und sah in ein fremdes Gesicht. Es war ihm suspekt, dass sich hier spät in der Nacht eine ihm unbekannte Person aufhielt. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Banker.
„Ja, können Sie mir sagen, wie ich in die Kasseler Straße komme? Ich habe eine Verabredung am Arche Nova-Haus.“ Bei diesen Worten wedelte der Unbekannte mit einem Stadtplan.
„Kommen Sie näher, hier am Auto sehen wir besser, ich zeig es Ihnen.“ Büchner drehte sich zum Kofferraum, in dem die Beleuchtung aufgeflammt war. Er nahm die Karte und versuchte sich zu orientieren. „Warten Sie mal, hier sind wir“, er beschrieb einen kleinen Kreis auf der Karte, „hier in der Solmsstraße, Sie müssen jetzt …“ Plötzlich spürte Büchner einen Stich in der rechten Seite seines Halses. Er sprach weiter, doch in derselben Sekunde sackten ihm die Beine weg.
27. April 1982, 07:01, Brasilien
Der Raum wirkte schmuddelig. Putz bröckelte von der Decke und Farbe blätterte von den Wänden. Die alten Holzstühle standen in einem Kreis um einen kleinen kniehohen Tisch herum. Sie wirkten abgewetzt, als hätten sie schon viele Menschen kommen und gehen sehen. Stickige Luft füllte den rechteckigen Wartesaal, denn es gab nur ein Fenster gegenüber der Tür, die schon vor langer Zeit aus den Angeln gebrochen war und nun an der schäbigen Wand lehnte. Die Sonne brannte unbarmherzig durch das offene Fenster. Wenn der Wind wehte, brachte er noch me