1. KAPITEL
Juni
„Es tut mir leid, Dad, aber ich fliege morgen nicht wegen dieses Meetings zurück nach Atlanta. Das ist völlig unnötig.“ Emily umklammerte ihr Handy und verzog das Gesicht. „Ich nehme per Telefonkonferenz teil.“
Selbst durch das Telefon konnte sie die Verärgerung ihres Vaters spüren. John Michael Fortune erwartete von den Angestellten von Fortune South Enterprises mehr als hundertprozentigen Einsatz und bei seinen Kindern, die für ihn arbeiteten, machte er keine Ausnahme.
„Warum willst du weiterhin in Red Rock bleiben?“, fragte er. „Es ist bereits Juni, Herrgott noch mal. Wendy hat das Baby vor Monaten bekommen. Inzwischen dürfte sie gelernt haben, wie man eine Flasche heiß macht und die Windeln wechselt.“
Emily zuckte zusammen, drückte sich das Handy dichter ans Ohr und hoffte, dass Wendy, die ihr Baby gerade stillte, nichts von ihrem Gespräch mitbekam. Die winzige Mary Anne war bereits im Februar geboren worden, jedoch zu früh auf die Welt gekommen.
Emilys Blick verweilte auf dem perfekt geformten Kopf des Babys.Das zählt, dachte sie. „Es liegt nichts an, was ich nicht von hier aus erledigen könnte“, entgegnete sie. Sie war die Direktorin der Werbeabteilung für die Telekommunikationsgesellschaft, die zum Familienunternehmen gehörte, und ob John Michael sie lobte oder nicht, sie wusste, dass sie ihren Job gut machte. Schließlich florierte das Geschäft.
„Was ist nur in dich gefahren?“, murrte ihr Vater verärgert. „Seit dem Tornado haben sich alle verändert. Du mit diesem Kinderwahn!“
„Dad, es sind Menschen in dem Tornado gestorben“, unterbrach Emily ihn, sie wollte ihm nicht weiter zuhören. Sie hatte zu den Glücklichen gehört und war mit einem verstauchten Fuß davongekommen, ihre Mutter hatte Gott sei Dank nur ein gebrochenes Handgelenk. „Das ist eine lebensverändernde Erfahrung.“
„Okay“, fuhr er sie an. „Nimm dieses Mal per Telefon an der Besprechung teil, aber am Freitag bist du besser beim ersten Meeting mit den Leuten von Connover dabei.“
Emily war kurz davor zu fragen, was diese unausgesprochene Drohung bedeuten sollte, widerstand jedoch dem Impuls. Auch wenn sie auf seinen autoritären Führungsstil gereizt reagierte, hieß das nicht, dass sie ihn als Vater und als Chef von Fortune South nicht respektierte. „Ich habe den Flug bereits gebucht“, erwiderte sie. „Grüß Mutter von mir.“
„Ruf sie selber an“, antwortete er barsch. „Momentan vermisst sie euch alle sehr. Es hat den Anschein, dass die Hälfte der Familie Atlanta für Red Rock verlassen hat.“
Emily unterdrückte ihren Zorn. Sie telefonierte regelmäßig mit ihrer Mutter, und John Michael wusste das. Beiden war ihr gegenwärtiges Handeln ein Rätsel, aber ihre Mutter war bei Weitem verständnisvoller. „Ich hab dich lieb, Dad.“
„Wir sehen uns Freitag.“
Entnervt beendete sie das Gespräch. Selbst in bester Laune war John Michael kein einfühlsamer Mensch. Sie schaute zu Wendy hinüber. „Hast du dich je gefragt, was unsere Eltern zusammengebracht hat und sie sechs Kinder in die Welt setzen ließ?“
Verschmitzt grinste Wendy. „Ehrlich gesagt, Em, möchte ich mir keine großen Gedanken darüber machen, wie unsere Eltern Babys gezeugt haben.“ Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die rosige Stirn. „Ich stelle mir lieber vor, dass wir alle durch unbefleckte Empfängnis auf die Welt gekommen sind.“
Emily lächelte gequält. „Vielleicht wäre diese Methode ja auch was für mich. Meine bisherigen Versuche, Mutter zu werden, waren nicht gerade von Erfolg gekrönt.“
„Das ist wieder typisch für dich, Em. Nur du hast einen fertigen Plan im Kopf, wie du Mutter werden kannst, nachdem du einen Tornado überlebt hast. Ist dir je in den Sinn gekommen, erst einmal einen Mann zu treffen?“
„Du klingst erstaunlich altmodisch. Heutzutage braucht man kaum noch einen Mann, um Mutter zu werden.“ Emily streckte die Arme nach ihrer Nichte aus, da Wendy mit dem Stillen fertig war. „Lass mich sie nehmen.“
Bereitwillig gab Wendy ihr das Baby. „So bewundernswert, wie du Karriere machst, wirst du auch als alleinstehende Mutter zurechtkommen, aber ich bin eine Mutter und ich kann mir nicht vorstellen, es ohne Marcos zu sein.“
Emily seufzte. „Ich bin dreißig Jahre alt. Wenn es für mich da draußen einenMarcos gäbe, hätte ich ihn bestimmt längst gefunden.“
Wendy zog eine Augenbraue hoch. „Wirklich? Wo denn? Im Bürogebäude von Fortune South? Dort verbringst du doch die meiste Zeit!“
„Jetzt bin ich nicht bei Fortune South, oder?“, argumentierte Emily. „Ich bin auch nicht auf eine Liebesaffäre aus. Daraus ist nie was geworden. Aber ein Kind großziehen? Das ist etwas anderes. Ich werde Mutter. Gan