1. KAPITEL
Beim Anblick von Venedig kannte Beths Begeisterung keine Grenzen.La Serenissima, wie diese Stadt liebevoll genannt wurde, stieg aus dem Nebel, der über der Lagune lag, auf wie ein Edelstein. Überall hörte man das Wasser an die Bohlen und an die Mauern plätschern, es klang wie ein leises, liebevolles Flüstern. Es fiel Beth nicht schwer, sich mit der melancholischen Atmosphäre, die über der Stadt zu liegen schien, zu identifizieren. Sie war weit weg von zu Hause, und bei der Aussicht, in wenigen Minuten ihre neue Stelle im Kunsthaus Francesco Fine Arts anzutreten, wurde ihr ganz flau im Magen. Mir wird es dort gefallen, versuchte sie sich immer wieder einzureden. Aber momentan war sie nur müde, sie fühlte sich einsam und allein und hatte Angst vor dem Neubeginn. Zu viel war in den letzten Jahren geschehen, womit sie hatte fertig werden müssen. Die unsterbliche Schönheit und die heitere Gelassenheit Venedigs standen in krassem Gegensatz zu dem Durcheinander, das jahrelang in ihrem Leben geherrscht hatte. Der Tod ihres Vaters hatte sie zutiefst erschüttert, und die Probleme, mit denen sie sich danach konfrontiert sah, hatten sie völlig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Sie besaß nicht länger die finanzielle Sicherheit, die ihr Vater ihr geboten hatte, und musste sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.
Plötzlich gerieten einige der Passagiere in dem Boot in helle Aufregung. Ein halbes Dutzend Venezianerinnen brachen in Begeisterungsrufe aus, und dann blickten auch alle anderen Passagiere hinaus in den Nieselregen. Alle redeten gleichzeitig, und beobachteten das Schnellboot, das in seiner ganzen Pracht mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbeibrauste. Falls es hier Geschwindigkeitsbegrenzungen gab, hatte dieser Freizeitkapitän, der das Boot steuerte, sie bestimmt überschritten. Der Mann zog genauso viele Blicke auf sich wie das Boot selbst. Er war groß, schlank und wirkte mit der strengen, abweisenden Miene völlig konzentriert. Eine Hand lag auf der Holzverkleidung, während er mit der anderen steuerte. Beth hielt den Atem an und sprang unvermittelt auf. Sie kannte den Mann.
„Meine Güte! Was macht er denn hier?“, rief sie aus. Erst als die Leute um sie herum sie belustigt ansahen, wurde ihr wieder bewusst, wo sie sich befand. Mit einem verlegenen Lächeln setzte sie sich hin und murmelte eine Entschuldigung. Vor lauter Stress werde ich noch verrückt, dachte sie. Luca war Berufssoldat und wäre bestimmt der Letzte, der ein Luxusschnellboot durch Venedigs Wasserstraßen steuerte. Genauso unvorstellbar war, dass er einen eleganten maßgeschneiderten Anzug trug. Das war jedoch kein Trost, denn der Schmerz über das Ende der Beziehung war auch nach all den Jahren noch ihr ständiger Begleiter. Schweigend und wehmütig beobachtete sie, wie das Boot in der Ferne verschwand. Der Mann, der Luca so ähnlich sah, schien eine wichtige Persönlichkeit zu sein. Aber wer auch immer er sein mag, dachte Beth, er hat mich nicht mal wahrgenommen.
Und damit hatte Beth recht. Menschen, die aus eigener Kraft Millionär geworden waren, hatten kaum noch Zeit für Normalsterbliche. Da bildete Luca Francesco keine Ausnahme. An diesem Morgen quoll sein Terminkalender förmlich über. Glücklicherweise würde heute endlich Ben Simpsons Lieblingssekretärin, oder besser gesagt, seine persönliche Assistentin aus England eintreffen. Die Frau musste eine Heilige sein, denn nur so konnte sie es schaffen, mit ihm zurechtzukommen.
An der Anlegestelle von Francesco Fine Arts überließ es Luca seinem Mitarbeiter, das Boot festzumachen, und eilte in das Gebäude. Während er den Knopf für seinen privaten Aufzug drückte, nickte er den Mitarbeitern am Empfang flüchtig zu. Immer noch war er irritiert über Ben Simpson. Der Mann mochte auf seinem Gebiet ein Genie sein, aber ihm fehlte jegliches Fingerspitzengefühl. Die Bitte der Personalabteilung, Bens persönliche Assistentin gleich mitzuengagieren, hatte er gedankenlos abgesegnet. Es war ihm wie eine harmlose Spinnerei vorgekommen. Doch mittlerweile hatte er gemerkt, dass diese Frau für Ben Simpson offenbar überlebenswichtig war.
Schließlich betrat er den Aufzug, und als die verspiegelte Tür lautlos hinter ihm zuglitt, verzog Luca das Gesicht. Das letzte Glas Rotwein gestern Abend war eindeutig eins zu viel gewesen. Er war nach Florenz geflogen, um den Spitzenwein seines Freundes Guido zu probieren. Und wieder wie schon seit fünf Jahren waren sie sich einig, dass der diesjährige Wein noch besser war als der vorige. Auch wenn sich seine Begeisterung über derartige gesellschaftliche Verpflichtungen in Grenzen hielt, spielte Luca mit und tat, was man von ihm erwartete. Und genau deshalb hatte er das letzte Glas auch noch getrun