2. Kapitel:
Die Frau unddas Leben: Scandal in Bohemia
»Die ganze Sache ist sehr eigenartig und komplex, Watson.«
»Was treibt Sie denn dazu, sie weiterzuverfolgen? Was haben Sie davon?«
»Allerdings, was habe ich eigentlich davon? Es ist Kunst um der Kunst willen, Watson.«
(„Der Rote Kreis“)
Als die Figur des Sherlock Holmes in zwei 1887 und 1890 erschienenen kurzen Romanen (A Study in Scarlet undThe Sign of Four) erstmals das Licht der Welt erblickte, erregte sie zunächst kein besonderes Aufsehen. Erst mit der in der Juli-Ausgabe desStrand Magazine abgedruckten KurzgeschichteA Scandal in Bohemia von 1891 setzte die beispiellose Erfolgsgeschichte der Holmes-Reihe ein, und bekanntlich fühlte sich Arthur Conan Doyle von seiner Schöpfung bald derartig in seinen sonstigen literarischen Ambitionen eingeengt, dass er mit der dreiundzwanzigsten, im Dezember 1893 erschienenen ErzählungThe Final Problem die Serie beendete und sein Millionenpublikum mit dem angeblich tödlich endenden Zweikampf am Reichenbachfall entsetzte.
Doyle hielt zehn Jahre lang durch, bis die – mittlerweile ins Astronomische gestiegenen – finanziellen Anreize übermächtig wurden und er die Produktion von Holmes-Kurzgeschichten wieder aufnahm16. An seiner Hauptfigur musste er rein gar nichts ändern, vielmehr lässt sich feststellen, dass schon die ersten beiden Romane und die erste ErzählungA Scandal in Bohemia ausgereicht hatten, um einen Charakter zu installieren, der das Potenzial zum literarischen Selbstläufer und Dauerbrenner besaß. Doyles geschicktes Changieren zwischen gemütlichem Baker Street-Realismus und den unvermittelt einbrechenden Szenarien des Schreckens und des Absurden wurde im obigen Kapitel bereits angesprochen, so dass nun der Protagonist selbst, welcher souverän zwischen beiden Welten agiert und mit kaltem Verstand noch den verworrensten und erschreckendsten Herausforderungen die Stirn bietet, ins Zentrum der Untersuchung rücken soll.
Es besteht kein Zweifel, dass vor allem Holmes’ siegreiche Rationalität immer wieder fasziniert, und dass die wenigen Merkmale, die vom Bild einer hocheffizienten Denkmaschine ablenken – sprich die Hinweise auf seinen Kunstsinn, auf seine (gemessen an seiner hageren Erscheinung) überraschenden Körperkräfte, vor allem aber auf seinen unverständlichen Drogenkonsum – eher als schmückendes Beiwerk erscheinen, die das Enigma einer einzigartigen, ebenso bewunderungswürdigen wie irritierenden Persönlichkeit literarisch abrunden. Holmes ist ein polarer Charakter; die auffälligste Polarität besteht entlang der „vertikalen“ Achse von Rationalität und Irrationalität, sprich seiner wissenschaftlich geschulten Beobachtungs- und Kombinationsgabe einerseits und seiner Flucht in drogeninduzierte Dämmerzustände andererseits. Aus Sicht des Erzählers Watson beinhaltet diese Polarität eine moralische Ambivalenz, Holmes scheint eine rationale Heldenfigur zu sein, die von unerklärlichen Dämonen immer wieder in den Sumpf irrationaler Selbstzerstörung17 gelockt wird (und die, eigentlich ebenso unerklärlich, stets mit enormer Tatkraft aus ihren Drogen-Träumereien zurückzukehren vermag, sobald die reale Welt neue Herausforderungen liefert). Überspitzt könnte man sagen, dass Holmes’ innere Spaltung den krassen Gegensatz zwischen erobernd-fortschrittlicher Ratio des Spätviktorianismus und antisozialen Niederungen der Londoner Gauner- und Verbrecherwelt spiegelt (letztere uferten mit den Ripper-Lustmorden von 1888 in geradezu antikulturelle Dimensionen aus, also den höchstmöglichen Gegensatz zum viktorianischen Selbstverständnis).
Betrachten wir zunächst die Installation der wissenschaftlichen Seite. In seiner 1924 erschienenen Autobiografie schildert Doyle (1988, S.26), wie die effektvoll dargebotenen diagnostischen Fähigkeiten seines Universitätslehrers Dr. Joseph Bell (183