Leben und Werk
Wer im London des Jahres 1886 die Fleet Street aufsucht, wird den kleinen Burschen vielleicht gar nicht bemerken. Und warum sollte man ihm auch Beachtung schenken? Er ist nur einer von vielen Jungen, die dort – lauthals die aktuelle Schlagzeile rufend – Zeitungen feilbieten. Das wird sich allerdings ändern. Der junge Dick Freeman hat einiges vor mit seinem Leben.
Eine Marke erschafft sich selbst
Am 1. April 1875 wird Richard Horatio Edgar Wallace in London geboren. Seine leiblichen Eltern, ein unverheiratetes Schauspielerpaar, geben das Kind zur Adoption frei. Weshalb sich ausgerechnet der Fischhändler George Freeman entschließt, den Säugling als Sohn aufzunehmen? Wer weiß… Allzu wohlhabend ist er jedenfalls nicht. Der kleine Dick Freeman nimmt schon im Alter von elf Jahren Gelegenheitsarbeiten an und wird sich während der ersten Jahre seines Erwerbslebens mehr schlecht als recht durchschlagen. Es dauert noch etwas, bis der Schulabbrecher zu jenem Mann wird, den das Publikum als Erfolgsautor kennt, wohlgenährt und mit einer Vorliebe für lange Zigarettenspitzen.
Edgar Wallace (1928)
Von 1889 bis 1900 veröffentlicht der Autor 62 Gedichte, bevor er sich 1901 erste journalistische Sporen als Sonderkorrespondent im Burenkrieg verdient. Dort gewonnene Eindrücke wird er in seine zwölf Afrika-Romane einarbeiten, die in den Jahren 1911 bis 1928 erscheinen. Zunächst jedoch, aus Südafrika zurückgekehrt, arbeitet er journalistisch und gibt militär-satirische Kurzgeschichten heraus.
Mit »Die vier Gerechten« (»The four Just Men«, 1905) erfindet sich der Journalist neu – als Kriminalautor Edgar Wallace. Um den Verkauf des Buches anzukurbeln, schließt er eine Wette mit der Leserschaft. Die Idee funktioniert, das Buch wird zum Publikumserfolg. Allerdings erkauft Wallace seine Bekanntheit teuer. Würde nicht der Daily Mail-Gründer Lord Harmworth eingreifen, wäre der Autor ruiniert: Viele Leser erraten die Lösung des beschriebenen Kriminalfalls und verlangen ihre 500 Pfund Wettprämie.
Von 1908 an erscheinen zahlreiche Kriminalromane. Wallace füllt in unglaublicher Geschwindigkeit riesige Papiermengen. Meistens arbeitet er parallel an mehreren Büchern. In der Regel beendet er mindestens zwei Krimis pro Jahr – 1919 sind es drei, 1922 und 1923 vier, 1924 ganze sechs Exemplare. Dass dieses Pensum steigerungsfähig ist, beweist er 1929: Innerhalb des einen Jahres schreibt Edgar Wallace 22 Bücher.
Möglich ist das nur, weil er nach Schema F vorgeht. Da sogar diese selbstauferlegte Reduktion des Erzählens nicht produktiv genug ist, um ihm den gewünschten Lebensstandard zu gewährleisten, benutzt er einen Vorläufer des Diktiergerätes. So entsteht in 200 Seiten geheftete Massenware, die sich größter Beliebtheit erfreut.
Der Autor entwirft durchschaubare Handlungen, die er mit eindimensional charakterisierten Protagonisten ausstattet. Typische Figuren sind das liebe Mädchen, der exzentrische Adlige, der raffiniert-freche Detektiv, der smarte Gigolo-Schurke und der gänzlich unmoralische Kriminelle. Die Frauen haben treu und naiv zu sein, die Guten hochherzig, die Bösen verkommen, wenn auch modisch gekleidet. Die Welt des Edgar Wallace ist in Ordnung und leicht verständlich – das Gute wird siegen. Dass sich die Krimis dennoch unterhaltsam lesen, liegt am erzählerischen Geschick des Autors, der mit außerordentlicher Rasanz Spannung aufbaut, um am Ende alles in romantischem Wohlgefallen aufzulösen.
Zeit seines Lebens will es Wallace nicht gelingen, mit seinem Einkommen hauszuhalten. Der ständig verschuldete Spieler vertröstet seine Gläubiger auf noch zu erwirtschaftende Honorare. Trotz seines Fleißes und des enormen Erfolgs, verzeichnet er finanziell niemals eine positive Bilanz.
Als er am 10. Februar 1932 in Hollywood stirbt, hinterlässt er tieftraurige Fans und eine hochverschuldete Familie. Nachdem der Autor, mangels Gelegenheit, kein Geld mehr ausgibt, reichen den Hinterbliebenen die Tantiemen aus, um sämtliche Schulden des Verstorbenen binnen eines Jahres zu tilgen.
Welche Bedeutung dem Kriminalschriftsteller beigemessen wird, verdeutlichen die Trauerbekundungen der Briten: Im Hafen von Southampton wird Halbmast geflaggt, als das Schiff mit Wallaces Sarg dort eintrifft, und in der Fleet Street ertönen die Glocken. Nahe der damaligen Pressemeile, am Ludgate Circus, befindet sich heute eine Gedenktafel für Edgar Wallace.
Vor allem: Viel
Insgesamt verfasst Wallace 124 Kriminalromane, 12 weitere Romane, zehn Sachbücher, unzählige Essays, Erzählungen und Kurzgeschichten sowie einige Theaterstücke und Drehbücher. Sechs weitere Krimis erscheinen posthum. Darüber hinaus werden 1935 vier, vom Privatsekretär des Autors umgearbeitete, Bühnenfassungen veröffentlicht.
Abgesehen davon, dass Edgar Wallace extrem produktiv ist, greift er Ideen bereits publizierter Bücher erneut auf. Diese effiziente Methode wendet er beispielsweise 1921 beim Roman »The Law of the Four Just Men« an, worin er sich auf seinen Erstling bezieht.
Der in Deutschland vermutlich bekannteste dieser Titel ist »Neues vom Hexer«. Dessen thematischer Vorgänger verhilft dem Autor 1927 quasi über Nacht zum Durchbruch auf dem hiesigen Markt, als »Der Hexer«, unter der Regie von Max Reinhardt, im Berliner Deutschen Theater zu sehen ist. Noch im selben Jahr erscheinen im Goldmann Verlag vier Kriminalromane von Wallace. Zuvor war, als erste deutsche Übersetzung, lediglich »Der Frosch mit der Maske« veröffentlicht worden. Danach verlegt Goldmann jährlich mindestens zwei Wallace-Krimis, und die deutsche Leserschaft ist begeistert.
Dass Edgar Wallace auch andere Literaturgattungen bedient, wird hierzulande weitgehend ignoriert.
Gelegentliche Schauer
Ab 1925 schreibt Wallace Bühnenstücke. Für das erste dieser Werke arbeitet er seinen Kriminalroman »The Gaunt Stranger« um, das unter dem Titel »The Ringer« im Theater zu sehen ist. Bühnenfassung und Roman lösen, unter dem Titel »Der Hexer«, in Deutschland...