ERSTER TEIL
Menschenwürde
I. Wider die Unverträglichkeit von Menschenwürde und Lebensqualitätsbewertung
Nach den Auseinandersetzungen, welche die Verabschiedung des Organtransplantationsgesetzes begleitet haben, und nach den zahlreichen Infragestellungen des Hirntodbegriffs konnte man den Eindruck gewinnen, daß Diskussionen über biomedizinische Ethik in Deutschland nun mehr und mehr von Ideologie befreit worden seien.19 Es schien, als seien wir in der Lage, solche grundlegenden Streitfragen sachlich zu betrachten. Die Bereitschaft zum objektiven und konstruktiven Dialog zwischen Politikern, Wissenschaftlern und Ethikern schien sich zu entwickeln; und die Einsicht, daß Dogmatismus auf diesem, für unsere Gesellschaft so sensiblen, Themenfeld nicht hilfreich ist, schien an Akzeptanz zu gewinnen.
Leider ist die Rationalisierung unserer Diskussionskultur rückläufig, seit sich die biopolitische Debatte in Deutschland auf die Frühstadien des menschlichen Lebens konzentriert. Die Frage, ob die Forschung an embryonalen Stammzellen legalisiert oder kriminalisiert werden sollte, hat die Debatte erheblich emotionalisiert, denn solche Forschung ist gegenwärtig nur möglich, wenn hierfür menschliche Embryonen getötet werden (vgl. Solter et al.,Embryo). Aus diesem Grund eskalierte die Debatte dermaßen, daß man den Eindruck gewinnen konnte, ein neuer Kulturkampf habe begonnen (vgl. Vieth,Rubikon). Dieser Eindruck wird durch die Tatsache verstärkt, daß die Haltung Deutschlands zu Forschung und Wirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern von Anfang an von besonderer Bedeutung war. So waren einige der Auffassung, daß nunmehr die Forschungsfreiheit auf dem Spiel stünde und gegen Wissenschaftsfeindlichkeit oder reaktionäre Ideologien, die danach strebten, in unserer Gesellschaft verlorenen Boden wett zu machen, verteidigt werden müsse. In einigen anderen Fällen, z. B. in der Präimplantationsdiagnostik, kamen Wirtschaftsinteressen massiv ins Spiel. Diese, so fürchtete man, würden gefährdet, wenn man auf der Basis des deutschen Grundgesetzes zu restriktive ethische Standards akzeptierte.
§1 Die gemeinsame Prämisse
Angesichts dieses Trends muß unsere Frage lauten: Warum ist das Rationalitätspotential unserer Diskurse über Biopolitik und biomedizinische Ethik rückläufig, und warum laufen wir Gefahr, bereits erreichte Konsense wieder zu zerstören? Bedenklich ist, daß der Begriff der Menschenwürde gegenwärtig nicht dazu genutzt wird, um in bioethischen Debatten voranzukommen, sondern um sie abrupt zu beenden. Hier besteht philosophischer Analysebedarf. In einer solchen Untersuchung muß auch expliziert werden, wie die Argumente, die auf dem Begriff der Menschenwürde fußen, in verschiedenen Kontexten der biomedizinischen Ethik funktionieren.
Meine These lautet, daß sich dieser gegenwärtige Rückschritt aus der Tatsache ergibt, daß der Fortschritt in der Reproduktionsmedizin die Frage aufwirft, wie man angemessen mit dem beginnenden menschlichen Leben umgehen sollte, und zwar auf eine Art und Weise, wie sie in der deutschen Diskussion (und im deutschen Recht) beharrlich vermieden oder allgemein als ethisch unzulässig angesehen worden ist. Daß man so rasch auf den Begriff der Menschenwürde zurückgreift, ergibt sich daraus, daß eine Beurteilung der neuen medizinischen Optionen der Stammzellforschung oder der Präimplantationsdiagnostik uns dazu zwingt, über die ethische Annehmbarkeit der Lebensqualitätsbewertung von menschlichem Leben nachzudenken.
Die politische Lösung des Problems der Abtreibung sowie Diskussionen über andere Problemfälle wie Sterbehilfe oder ärztlich assistierten Suizid haben ein gemeinsames Charakteristikum: Beinahe jeder versucht die Frage zu vermeiden, ob Bedingungen oder Situationen eintreten können, in denen Lebensqualitätsbewertungen akzeptabel oder gar erforderlich sind; dies gilt insbesondere für Fälle, in denen die Möglichkeit besteht, menschliches Leben mit Absicht zu beenden.20 Sowohl am Ende des menschlichen Lebens als auch ganz an dessen Anfang macht es der Fortschritt in der Biologie und in der Medizin unvermeidbar, die Frage zu diskutieren, ob Lebensqualitätsbewertungen im Allgemeinen ethisch unzulässig sind.
Diejenigen, die auf den Begriff der Menschenwürde zurückgreifen und sich damit auf das deutsche Grundgesetz beziehen, setzen in ihrer Argumentation für die ethische Unzulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik voraus, daß die Bewertung des menschlichen Lebens und seine Selektion aufgrund einer Lebensqualitätsbewertung – beides sind fraglos wesentliche Aspekte der Präimplantationsdiagnostik – mit der Würde des Menschen unvereinbar sind.21 Vor einigen Jahren hat Regine Kollek diese Position mit aller wünschenswerten Klarheit auf den Punkt gebracht:
Ein Verfahren, in dessen Zusammenhang potentielle menschliche Wesen bewußt auf Probe erzeugt und von den zukünftigen Eltern erst nach einer genetischen Untersuchung für existenz- und entwicklungswürdig befunden werden, ist mit der Würde menschlichen Lebens nicht vereinbar. (Kollek,Schwangerschaftsabbruch,S. 124)
Die Intuition, daß eine Lebensqualitätsbewertung mit Menschenwürde unvereinbar ist – im folgenden als Unvereinbarkeitsannahme bezeichnet – stellt eine weit verbreitete Prämisse in unseren Debatten über biomedizinische Ethik dar. Selbst diejenigen, die der Auffassung sind, daß die Präimplantationsdiagnostik ethisch akzeptabel ist und nicht gesetzlich verboten werden sollte, akzeptieren im Allgemeinen die Unvereinbarkeitsannahme. Deshalb argumentieren sie dafür, daß ein menschlicher Embryo (oder auch frühere