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Ronsperg, Mai 1896 „Kommt da die neue gräfliche Herrschaft oder ist das nur die Vorhut von einem Wanderzirkus?“
Der Schullehrer Fischer flüsterte dem Fleischhauer Spinler, der neben ihm im Spalier stand, seine spöttische Bemerkung ins Ohr. Mußte ja nicht jeder hören, was er von der feierlichen Einfahrt jener drei Kutschen hielt, mit denen die langerwartete neue Herrschaft soeben in Schloß Ronsperg eintraf. Tatsächlich war es, gelinde gesagt, irritierend, was die Männer zu sehen bekamen: Graf und Gräfin waren nicht auszumachen, statt dessen saßen an der Spitze des kleinen Wagen-Trecks im offenen Landauer zwei zierliche Japanerinnen im Kimono. Jede hielt einen kleinen Buben auf dem Schoß, auch sie in Miniaturausgaben des traditionellen japanischen Wickelgewandes gekleidet, an dem vor allem die breiten Seidenschärpen um den Bauch herum auffielen. Die beiden Kinder mußten die Söhne des Grafen sein, Hansi und Richard, und wären sie nicht von ihren beiden Erzieherinnen hochgehalten worden, man hätte sie hinter dem Verschlag des Landauers gar nicht gesehen. Vorne auf dem Kutschbock saß neben dem Wagenlenker ein bärtiger Hüne, dessen exotische Kleidung nicht minder kurios war. Der Kerl kam daher wie ein kaukasischer Berghirte, offenes weißes Leinenhemd, Kniebundhose, Ledersandalen, deren Riemen bis hoch zu den Waden gebunden waren, dazu ein Patronengürtel um den Leib, in dem ein orientalischer Krummdolch steckte. Schullehrer Fischer hatte schon recht, wenn ihm bei einem solchen Anblick als erstes ein Haufen wilder Zirkusleute einfiel.
In der zweiten Kutsche saß lediglich der junge Gutsverwalter Bernklau mit seinem Gehilfen, die beiden hatten die japanische Reisegesellschaft am Tauser Bahnhof in Empfang genommen. Dahinter ein Leiterwagen, wie ihn die Bauern benutzen, mit dem Gepäck, riesige Koffer, manche davon schrankgroß. Vom Grafenpaar selbst aber keine Spur.
„Ja, so was!“ grunzte der Fleischermeister, als das letzte der Fuhrwerke an ihm vorbeigerollt war, und die schweren Bauernrösser, die den Leiterwagen zogen, hatten direkt vor ihm ihre g’stinkerten Roßballen fallen lassen, damit es auch ja sinnbildlich wurde: Da habt’s euren Mist. Bis zur Schloßeinfahrt hin reichte das Ehrenspalier der Ronsperger Bürger, und es zog sich über den Ringplatz an der Kirche vorbei die Hauptstraße entlang bis an den Rand des kleinen Städtchens. Ja, sogar noch weiter, wenn auch mit größeren Lücken zwischen den grüppchenweise zusammenstehenden Bauersleuten beiderseits der Landstraße, die in Richtung Taus führte. Dort in der Bezirksstadt nämlich, wo es seit 1861 einen Bahnhof an der Strecke Prag–Pilsen–München gab, hatte die Reisegesellschaft noch ein letztes Mal umsteigen müssen, auf die bereitstehenden Kutschen. Ja, es war halt schon elend weit weg und abgelegen, dieses Japan, zumindest von Ronsperg aus gesehen, dem kleinen Städtchen ganz am Rande des böhmischen Kronlandes, im Tal der Pivoňka, umgeben von dichten Wäldern.
„Sind die unterwegs irgendwo verloren gegangen?“ fragte, nicht ganz ernst gemeint, der Schullehrer. „Oder ist die gnä’ Frau Gräfin gar seekrank geworden? Die Japaner haben ja jahrhundertelang nie ihre Insel verlassen, sind nie auf ein Schiff gestiegen. Die Mitsuko, dem Grafen seine Frau, soll überhaupt die erste Japanerin in Europa sein. Die Arme! Und erst die Reise bis hierher. Haben Sie sich Ihnen das einmal angeschaut, Spinler, über wie viele Weltmeere man da fährt?“
Fischer hatte es getan, in seinem „Großen Schulatlas“. Phänomenaler Mann, dieser Carl Diercke, der erst vor wenigen Jahren sein faszinierendes Weltkartenmaterial herausgegeben hatte. Immer wieder zeigte Fischer seinen Schülern den Atlas und pries ihn als ein wahres Wunderwerk. Und wie begeistert d