: Jostein Gaarder
: Ein treuer Freund Roman
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446256002
: 1
: CHF 9.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jakop Jacobsen ist stets ein Einzelgänger gewesen, seit seiner Jugend in einem abgelegenen Tal in Norwegen. Sein bester Freund Pelle ist eine Handpuppe, mit der er lange Gespräche führt und die deutlich schlagfertiger ist als er selbst. Und er hat ein merkwürdiges Hobby: Jakop geht gern auf fremde Beerdigungen. Er gibt sich dort als Freund des Toten aus, bei den Familien der Toten fühlt er sich wohl. Dumm nur, wenn jemand sein falsches Spiel durchschaut ... So wie Agnes. Jakop verliebt sich in sie und hofft, dass sie ihn trotz seiner Eigenart und des vorlauten Pelle erhört. 'Ein treuer Freund' ist ein philosophischer Schelmenroman, eine herrlich schräge Liebesgeschichte und eines von Jostein Gaarders schönsten Büchern.

Jostein Gaarder, 1952 in Norwegen geboren, studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaften. Er war lange Philosophielehrer und lebt heute als freier Schriftsteller in Oslo. Sein Roman Sofies Welt (1993) wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen von ihm Ein treuer Freund (Roman, 2017) und Genau richtig (2019). 2023 folgte Ist es nicht ein Wunder, dass es uns gibt? Eine Lebensphilosophie.

ERIK


WIR WAREN VIELE an jenem Nachmittag Anfang September 2001, als wir Erik Lundin das letzte Geleit gaben. Unter uns war auch dein Vetter Truls, deshalb lasse ich meinen Bericht hier beginnen. Zehn Jahre später traf ich ihn zusammen mit Liv-Berit und den beiden Töchtern wieder. Dabei bin ich dir zum ersten Mal begegnet.

 

Die Vestre-Aker-Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, und wir gingen dicht gedrängt hinter der Bahre her zur Grabstätte. Die Sonne spielte im Laub der Bäume, aber sie brannte uns auch in den Augen – für manche eine willkommene Gelegenheit, die Sonnenbrille herauszuholen. In mir klangen noch immer Chorgesang, majestätische Trompetensoli und berauschende Orgeltöne nach.

Nachdem wir Erde auf den Sarg geworfen hatten, gingen wir zurück zur Kirche und zum Gemeindehaus. Es war mild für die Jahreszeit, um die zwanzig Grad. Erst als sich die Sonne hinter eine Wolke verzog, spürten wir den frischen Wind, der vom Fjord und vom Tiefland heraufkam.

 

Bei einer von so vielen Menschen besuchten Beerdigung fällt es nicht weiter auf, wenn jemand allein unter den Bäumen dahinwandert und keinen Kontakt zu den Angehörigen aufnimmt. Die Familie im engeren Sinne ist ohnehin mit sich selbst beschäftigt. Wie sollten sie da jemanden bemerken, der sich, auch vom Rest der Trauernden abgesondert, im Hintergrund hält?

Einige der auf dem Friedhof Versammelten waren mir allerdings schon früher begegnet, und einem davon, einem ehemaligen Schüler, nickte ich sogar zu. Aber wir hatten nie wieder miteinander zu tun gehabt; er brauchte mich also nicht zu kümmern. Dann war da noch ein großer dunkler Mann, dem ich schon öfter über den Weg gelaufen war, aber auch er war ein Außenstehender und damit kein Problem. Mir fiel nur ein, dass ich einmal von ihm geträumt hatte, wie er mit einer Sense um sich schlug.

Auf dem geräumigen Platz vor der Kirche winkte man einander zu und umarmte sich zum Abschied, manche begrüßten sich aber auch erst und stellten sich einander vor. Einige der ganz Alten wurden zu wartenden Autos geleitet, die danach eins nach dem anderen den Motor anließen und langsam den abschüssigen Weg hinunterfuhren, auf dem es bereits von schwarz gekleideten Menschen wimmelte.

Ich selbst war fest entschlossen, zu bleiben und mit ins Gemeindehaus zu gehen. In der Anzeige hatte ja gestanden, dass alle, die Erik zum Grab geleiteten, dort willkommen seien. Mir war klar, dass das Beisammensein mit den Angehörigen und Freunden eine Herausforderung werden würde, aber nicht mitzugehen schien mir keine Alternative zu sein.

 

In der Kirche hatte ich mich fast ganz nach vorn und direkt an den Mittelgang gesetzt, auf die rechte Seite, denn so hatte ich den Pastor im Blick, der die Trauerfeier damit begann, dass er die Stufen vom Altar herunterkam und nicht weniger als vier Generationen der Familie Lundin mit Handschlag begrüßte: zuerst die Witwe Ingeborg Lundin, danach die drei zwischen vierzig und fünfzig Jahre alten, von ihren Ehepartnern begleiteten Kinder und zum Schluss die Enkel und Urenkel.

Ich versuchte zu erraten, welche der Töchter Marianne und welche Liv-Berit war. Ich wusste, dass Marianne die Ältere war, und stellte fest, dass zwischen den beiden Schwestern ein beträchtlicher Altersunterschied bestehen musste. Die Sache war also einfach. Liv-Berit war vielleicht Anfang vierzig, und ihre Schwester, Marianne, mochte in meinem eigenen Alter sein, also um die fünfzig. Jon-Petter, das älteste der Kinder, saß dicht neben seiner Lise, die leicht als die Schwiegertochter zu erkennen war, denn Jon-Petter, Marianne und Li