: Joseph Hanimann
: Der Unzeitgenosse Charles Péguy - Rebell gegen die Herrschaft des Neuen
: Carl Hanser Verlag München
: 9783446256101
: 1
: CHF 15.10
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Er kam aus der Provinz nach Paris und blieb dort immer ein Außenseiter. Als Dichter und Denker jedoch scharte Charles Péguy (1873-1914) eine verschworene Gemeinde um sich. In jüngerer Zeit zählten dazu ganz unterschiedliche Persönlichkeiten aus Philosophie und Literatur: Gilles Deleuze, Alain Finkielkraut, Bruno Latour und Thomas Bernhard imponierte die Unabhängigkeit dieses Intellektuellen aus Frankreich. Seine Dramen und seine Prosa betreiben eine radikale Kritik der Moderne, als Herausgeber einer eigenen Zeitschrift musste er keine Kompromisse eingehen. Von Péguy kann man lernen, ohne Rücksicht auf irgendeinen Zeitgeist zu denken. Es wird Zeit, ihn auch hierzulande zu entdecken.

Joseph Hanimann, geboren in Chur, ist Kulturjournalist und Essayist in Paris. Er war Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist dies heute für die Süddeutsche Zeitung. 2011 erhielt er den Berliner Preis für Kulturkritik. Bei Hanser erschien: Vom Schweren. Ein geheimes Thema der Moderne (1999, Edition Akzente), Antoine de Saint-Exupéry. Der melancholische Weltenbummler (2013) und Der Unzeitgenosse. Charles Péguy - Rebell gegen die Herrschaft des Neuen (2017).

Klima


»Schreiben Sie, wie sie beten!« Die Anweisung des Zeitungsdirektors an den Reporter im Prolog zuDie letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus vor der aufgebahrten Leiche des Erzherzogs Franz-Ferdinand im Wiener Südbahnhof war Programm für eine neue Epoche. Sommer 1914. »Schreiben Sie, wir brauchen die Stimmung!« Niederknien, mitschreiben, kämpfen – drei Dinge, deren Echo noch heute nachhallt.

Ewigkeitsanspruch heiliger Bücher, politische Tagesaktualität aus der Zeitung, dramatische Unmittelbarkeit detonierender Gewehre oder Granaten: Die Triade schien sich zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aus ihrer bedrohlichen Verbindung zu lösen. Religion, aktuelle Berichterstattung und diplomatische oder militärische Kampfstrategie sollten auf getrennten Wegen weniger Unheil anrichten. Ein Jahrhundert später zeigt sich jedoch: Sie sind zueinander in Reichweite geblieben. Die politische Berufung auf angeblich göttliche Botschaften, Propaganda im Tarnkleid der Information und der Einsatz von Kriegswaffen gehen im Namen höherer Ziele nach wie vor miteinander Verbindungen ein. Kategorien wie Fanatismus, Nihilismus, Zynismus, inszenierte oder blindwütige Barbarei, Zivilisierung, Realpolitik wirbeln dann in der Debatte durcheinander. Man kann sich diesem Phänomen von dem Punkt aus nähern, wo die Stränge eng verknotet waren, auf den Spuren eines Mannes, der sich zeitlebens leidenschaftlich mit den Verstrickungen zwischen Gesellschaftskritik, Sozialutopie, intellektuellem Engagement und zugleich Intellektuellenverachtung, zwischen Ideologiescheu, Patriotismus, religiösen Gefühlen und militärischer Waffenbereitschaft abmühte.

Am 5. September des Kriegsjahrs 1914 stürmte er mit seinen Soldaten über ein Getreidefeld der Gemeinde Villeroy, östlich von Paris. »Schießt! Schießt doch, um Himmels willen!«, soll er seinen Leuten noch zugerufen haben, bevor eine Kugel ihn traf. Seine Leiche wurde am Tag danach neben anderen Gefallenen geborgen. Charles Péguy war einundvierzig Jahre alt, als er am Tag vor Beginn der Marne-Schlacht fiel. Ein Jahr später schrieb Karl Kraus, einundvierzigjährig, seinen Prolog zuDie letzten Tage der Menschheit. Es sind zwei Literatenschicksale unter vielen anderen. In ihren Ähnlichkeiten und ihren Kontrasten geben sie aber interessante Aufschlüsse. Der eine zog begeistert zur Front, der andere blieb ihr entgeistert fern. Der eine pflegte zu beten, der andere zu spotten.

Péguy kam 1873 in bescheidenen Verhältnissen des Faubourg de Bourgogne in Orléans zur Welt und wuchs als Einzelkind bei der Mutter, einer Stuhlflickerin, und der Großmutter auf. Nach einer soliden Schulbildung in den großen Etabli