: Mazda Adli
: Stress and the City Warum Städte uns krank machen. Und warum sie trotzdem gut für uns sind
: C.Bertelsmann Verlag
: 9783641169336
: 1
: CHF 7.10
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie das Großstadtleben unsere Psyche verändert

Machen Städte krank? Schadet Stadtleben unserer Psyche? Macht nur Landleben glücklich? Provokante Fragen mit brisantem Hintergrund. Denn 2050 werden rund siebzig Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Immer mehr Millionenstädte verändern das Gesicht der Erde. Sie sind die Zentren unserer Gesellschaften. Die Menschen profitieren von der Vielfalt, den kulturellen Ressourcen und den Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung. Gleichzeitig prägen Dichte, Lärm, Hektik, Gewalt und Anonymität den urbanen Alltag. Der Arzt und Psychiater Mazda Adli fragt, wie unser Gehirn auf die permanenten Reize in der Stadt reagiert und ob uns sozialer Stadtstress krank machen kann. Urbanisierung, so sein Fazit, wird sich für unsere Gesundheit als mindestens so relevant erweisen wie der Klimawandel. Gesunde Städte zu formen wird deshalb eine immer dringendere sozial- und gesundheitspolitische Notwendigkeit. Adli plädiert für eine Neurourbanistik, einen interdisziplinären Ansatz für Wissenschaft, Kultur und Politik, um neue Visionen für unsere Städte zu entwerfen. Er sagt: Städte sind gut für uns – wir müssen nur lernen, sie zu lebenswerten Orten zu machen.



Mazda Adli ist Psychiater und Psychotherapeut. Er ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und Leiter des Forschungsbereichs Affektive Störungen an der Charité. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stehen die Stress- und Depressionsforschung. Nach dem Medizinstudium war er Assistenzarzt an der Klinik für Psychiatrie der Freien Universität Berlin und anschließend Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité am Campus Mitte. 2009 war Adli als Executive Director einer der Initiatoren des World Health Summit. 2010 habilitierte er sich an der Charité. Sein neuestes Projekt ist das Interdisziplinäre Forum Neurourbanistik, das er gemeinsam mit der Alfred Herrhausen Gesellschaft sowie Neurowissenschaftlern, Architekten und Stadtforschern gegründet hat.

2.
Keiner will ihn, alle haben ihn.
Was ist eigentlich Stress?

Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah, tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich.

Das sind Eindrücke aus dem Paris des Fin de Siècle. Sie stammen aus denAufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, dem berühmten Tagebuchroman von Rainer Maria Rilke. Darin lässt Rilke seine Figur Malte immer wieder von Paris erzählen, der Stadt, in der Malte lebt. Paris war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinter London und New York die drittgrößte Metropole der Welt. Als Rilke seinen Roman schrieb, war die Industrialisierung bereits weit fortgeschritten, die Großstädte wuchsen rasant, und sie technisierten sich. Der Verkehr nahm zu, die ersten elektrisch betriebenen Straßenbahnen ersetzten die Pferdeomnibusse, Ampeln wurden aufgestellt. Für Ruhe und müßiges Innehalten blieb kein Platz: »Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden.« Die Kluft zwischen Arm und Reich in der Stadt vergrößerte sich, es herrschten unwürdige Zustände, es gab Armut und Dreck. Malte beschreibt die Stadt als einen Ort des Überlebenskampfes. Warum die Menschen hierherkamen, er verstand es eigentlich nicht: »So, also hierher kommen die Leute, um zu lieben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier.« Die Szene zeigt eindrücklich: Für Malte Laurids Brigge war Paris mit Lärm, Unruhe, Anspannung, Unsicherheit, in unserem heutigen Sprachgebrauch: mit Stress, verbunden.

Ich habe es selbst erlebt, als ich im Herbst 1992 nach Wien zog. Die erste Zeit dort war für mich eine Phase großer Anspannung. Es war ein kalter, nasser Herbst, und Wien zeigte sich von einer sehr tristen Seite. Manche Städte sind bekannt dafür, im Winter besonders unfreundlich zu sein. Wien gehört dazu. »Eine wie alte leblose Stadt, ein wie großer, von ganz Europa und von der ganzen Welt allein- und liegengelassener Friedhof ist Wien«, schreibt Thomas Bernhard in seiner ErzählungDas Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohns und evoziert damit die oft zitierte Morbidität der österreichischen Hauptstadt. Manch wolkenbedeckter Wintertag lässt die baumlosen Straßen mit ihren hohen Fassaden schier in einem schmutziggrauen Häusermeer versinken.

Dazu kam: Das Wien der 90er-Jahre wirkte auf mich wie eine deutsche Stadt aus den 60er-Jahren. Fürchterlich unmodern, von der übrigen Welt isoliert und vergilbt. Für jeden amtlichen Vorgang musste man erst in einer der vielen Trafiken (wie in Österreich Kioske und kleinere Verkaufsstellen genannt werden) Bundesstempelmarken lösen. Die großen Straßen, die alten Gebäude – die Stadt ließ zwar ihre einstige Pracht erahnen, war aber gleichzeitig abgewrackt und verstaubt. Ich wohnte in einer kleinen Einzimmerwohnung im 16. Wiener Gemeindebezirk, die Toilette befand sich auf dem Gang, die sich die Bewohner der Nachbarwohnung und ich teilen mussten. Mir gegenüber wohnte eine mannslustige Alkoholikerin, vor der mich meine Vermieter gleich warnten. Manchmal hörte ich sie auch laut die ganze Nacht mit imaginierten Gesprächspartnern diskutieren. Beim Versuch, in den kälter werdenden Herbsttagen den Ölofen in meiner Wohnung in Gang zu setzen, verwandelte sich das Ding innerhalb weniger Minuten in eine Art glühenden Schmelzofen. Als die Feuerwehrleute eintrafen, war die Wohnung auf beinahe 50 Grad aufgeheizt. Sie löschten den Ofen, klebten ein Sicherheitssiegel drauf, und ich durfte ihn nicht mehr benutzen, bis ein Fachmann ihn geprüft und wieder freigegeben hatte. Das zog sich hin, und ich erlebte die kältesten zwei Wochen meines Lebens. Um nicht zu frieren, ging ich ins Theater. Das hat damals meine große Theaterliebe entfach