: Ali Smith
: Wem erzähle ich das? Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641207397
: 1
: CHF 14.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 224
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn Ali Smith die Regeln des Erzählens erklärt, entfalten sich Geschichten. Ihre Vorlesungen über Literatur sind eine Liebesgeschichte, wie sie noch keiner je gehört hat - eine Geschichte zweier Liebender ebenso wie die Geschichte der Liebe des Menschen zur Kunst und was sie für unser aller Leben bedeutet.

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.

So kalt weht heut der Wind, mein Lieb,

und regnet an manchen Tagen;

ich hatte nur ein Herzallerlieb,

heut wurd es zu Grabe getragen.

Ich tu für mein einzig Herzallerlieb,

was ein junger Mann nur vermag;

und weine still an ihrem Grab

ein volles Jahr und einen Tag.

Das volle Jahr und der Tag waren verstrichen, und ich wusste mir noch immer keinen Rat. Wenn überhaupt, wusste ich mir noch weniger Rat.

Ich ging rüber in dein Arbeitszimmer und sah mir deinen Schreibtisch an, auf dem die unfertigen Sachen, das, woran du zuletzt gearbeitet hattest, noch ordentlich gestapelt lagen. Ich sah mir deine Bücher an, zog aufs Geratewohl eins deiner Bücher aus dem Regal − Arbeitszimmer, Schreibtisch, Bücher, sie waren jetztmein.

Wie es der Zufall wollte, hatte das Buch, das ich heute aus dem Regal zog, ursprünglich sogar mal mir gehört. Es war ein Roman von Dickens, Oliver Twist, die alte Penguin-Ausgabe aus meiner Zeit an der Universität mit einem Buchrücken, dessen Orange fast völlig verblasst war, und mit einem Buchdeckel, dessen Illustration, ein Stahlstich, eine fidele Runde von Trinkern und Kindern in einem Pub zeigte und sich vom Rücken zu lösen begann. Eine Lektüre hielt das Exemplar bestimmt noch durch. Ich hatte Oliver Twist nicht mehr gelesen, seit, o Gott, wann?, er Teil des Lehrplans an der Uni war, lange vor unserem Kennenlernen, seit über dreißig Jahren also.

Das versetzte mir schon einen leichten Schock. Ein volles Jahr und ein Tag mögen als kurze Zeit durchgehen, aber dreißig Jahre? Wie konnte es sein, dass mir dreißig Jahre vorkamen wie ein bloßer Wimpernschlag? Es war die Zeitspanne zwischen ausschließlich in Schwarzweiß gezeigten Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg und David Bowie, der Life on Mars in den Top of the Pops sang, eine Zeitspanne, in der eine Frau erwachsen geworden sein und vier eigene Kinder bekommen haben konnte, von denen das erste, wenn sie zeitig angefangen hatte, inzwischen fast alt genug war für seinen Schulabschluss. Der auch längst nicht mehr A-Levels hieß.

Vielleicht probiere ich ja, Oliver Twist zu lesen, das ganze Ding, von Anfang bis Ende. Ich hatte über ein Jahr und einen Tag nichts gelesen, hatte es nicht gekonnt. Ich schlug das Buch auf. Das erste Kapitel –Handelt von dem Ort, wo Oliver Twist geboren wurde, und von den Umständen, die seine Geburt begleiteten – begann auf Seite 45 (das sind ganz schön viele Seiten, bevor er überhaupt auf die Welt kommt, vierundvierzig, ich wollte aber kein von wer weiß wem verfasstes Vorwort lesen, die Zeit der Einführungen hatte ich Gott sei Dank hinter mir; zu irgendetwas musste es schließlich gut sein, dass man älter wird), und ich ließ mich in dem Sessel am Fenster nieder.

Am Fenster zog es. An dem Fenster hatte es schon immer gezogen, weil wir es in dem Jahr, in dem wir es frisch gestrichen und zum Trocknen einen Spaltbreit offen gelassen hatten, anschließend nicht mehr ganz zubekamen, ohne die Farbe zu beschädigen, und das wolltest du auf keinen Fall, denn du hattest es ja sehr sorgfältig gestrichen. Also beließen wir es dabei. Wenn ich längere Zeit hier saß, das war mir klar, würde ich schlimme Hals- und Schultersch