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Siobhan
Mittwoch, 22:30
Ich muss meine Kontaktlinsen herausnehmen, die kleben schon. Ich hasse diesen Moment, nachdem ich meine Linsen entfernt und meine Brille noch nicht gefunden habe – dann fühle ich mich so kurzsichtig und hilflos. Gestern Abend habe ich mir selbst einen solchen Schrecken eingejagt: Ich hatte meine Linsen im Badezimmer herausgenommen und mich dann erinnert, dass meine Brille neben dem Laptop im Wohnzimmer lag. Als ich hinaus auf den Flur trat, um sie zu holen, tauchte wie aus dem Nichts eine Gestalt auf. Ich habe mich fast zu Tode erschrocken und hätte beinahe geschrien – bevor ich bemerkte, dass ich vor meinem eigenen unscharfen Spiegelbild im Flur Angst hatte.
»Komm schon, Siobhan«, murmelte ich leise. »Reiß dich zusammen.«
Schon wieder Selbstgespräche … Wahrscheinlich habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, allein zu leben. Ich werde nachts nervös, wenn die Wände sonderbare Geräusche von sich geben oder Stimmen von draußen hereinwehen. Oder wenn Biggles plötzlich miauend aufs Laken knallt, als wäre er irgendwie von der Decke herabgefallen. Es ist erbärmlich, ich weiß, sich vor nichts zu fürchten. Das Ergebnis einer höchst lebhaften Fantasie gepaart mit zu vielenTV-Thrillern. Doch das ist auch keine Entschuldigung für meine erstaunliche Eigenart, ständig etwas zu verlegen, die zweite Sache, die mich im Moment an mir selbst nervt.
Es war schlimm genug, als ich meine Schlüssel letzte Woche stundenlang draußen im Türschloss vergessen hatte – eigentlich Moms Spezialgebiet: mich in Tränen aufgelöst anzurufen und zu jammern, sie hätte das ganze Haus auf den Kopf gestellt und könnte sie nirgends finden, bis ich sie frage, ob sie an der Tür nachgesehen hat. Weshalb ich mich ebenfalls aufgemacht und mein Glück versucht habe – oh nein, ich verwandle mich in meine Mutter!
Habe endlich meine Brille gefunden. Sie war in meiner Manteltasche.
Wie dem auch sei, der Kurs für kreatives Schreiben … Ich hätte nie gedacht, dass er so angsteinflößend sein könnte. Ich meine, ich habe Lesungen und solches Zeug gehalten, aber Verantwortung für deine eigenen Schüler zu übernehmen ist irgendwie viel heftiger, auch wenn es nur ein Abendkurs am hiesigen College ist. Was sie wohl von mir halten? Ich habe versucht, Autorität und Selbstbewusstsein auszustrahlen, obwohl meine Fingernägel Halbmonde in meine Handflächen gebohrt haben.
»Okay, es wäre wohl eine gute Idee, wenn wir uns alle vorstellen würden«, sagte ich und hatte sogleich Mitleid mit ihnen. Irgendjemand hatte es einmal als den schleichenden Tod beschrieben. Man sitzt dort, wartet und wiederholt in Gedanken, was man sagen will, während der Kelch immer näher kommt und du endlich an der Reihe bist … Zumindest war ich als Lehrerin als Erste dran.
Ich wollte schon loslegen, da fing ich den Blick eines der beiden männlichen Teilnehmer auf. Er fläzte ganz hinten, wie ein Schuljunge, zwei Reihen hinter allen anderen. Am