1. Ein neuer Fall für Gustav von Karoly
„Otello ist tot!“
Die kräftige Stimme von Marie Luise, Gustav von Karolys Halbschwester, drang bis in sein Zimmer, obwohl die Tür zum Vorraum geschlossen war.
Am liebsten hätte er zurückgeschrien: „Dieser Trottel hat den Tod mehr als verdient.“
Er besann sich jedoch auf seine guten Manieren, legte seinen Morgenmantel ab und wusch sich ordentlich in der großen Schüssel, die auf der Kommode neben seinem Bett stand.
Inzwischen teilte Marie Luise von Batheny Gustavs Tante in kurzen Worten mit, was gestern Abend in der Wiener Hofoper passiert war.
Josefa, Gustavs ehemaliges Kindermädchen, die heute Haushälterin, Dienstmädchen und Köchin in einem für die Karolys spielte, hörte ebenfalls aufmerksam zu.
Als jedoch Gustav nach ihr rief, eilte sie sofort in sein Zimmer.
„Ich brauche dringend einen starken Kaffee. Ohne Kaffee ertrage ich die liebe Marie Luise nicht. Es ist erst acht Uhr! Hat sie denn überhaupt keinen Genierer?“
„Der Otello ist tot“, flüsterte Josefa.
„Na und? Muss sie mich deswegen in aller Herrgottsfrüh aus dem Bett jagen? Ich habe ihr hundertmal erklärt, dass diese Angewohnheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet bei Leuten hereinzuschneien, nicht gerade comme il faut ist. Ich weiß, sie hat dieses unmögliche Benehmen von Ihrer Majestät, Kaiserin Elisabeth – Gott hab sie selig –, übernommen, aber sie ist eben nicht die Kaiserin.“
„Reg dich bitte nicht so auf, Gustl. Jede Art von Aufregung ist in deinem Zustand schlecht für dich, hat der Herr Doktor gesagt.“
„Wie soll ich mich nicht aufregen, wenn mich jemand wegen irgendeines toten Opernsängers um meine kostbare Nachtruhe bringt?“
„Soviel ich mitgekriegt hab, hat er sich nicht selbst umgebracht.“
„Ah, du meinst, sie hat einen neuen Fall für mich? Kein Interesse. Ich bin krank.“
„Gustav, zieh dich endlich an!“
Josefas energischer Ton verfehlte nicht seine Wirkung.
Er griff nach Hemd und Hose, die ordentlich auf einem stummen Diener hingen, und schlüpfte hinein. „Zuerst will ich einen Kaffee“, murmelte er trotzig.
„Den kannst du in der Küche trinken.“ Seinen Protest überhörend, verließ die alte Frau mit der schweren Waschschüssel in den Händen sein Zimmer.
Während sich Gustav von Karoly fertig ankleidete und ein Zigarillo zur Beruhigung rauchte, beklagte sich Vera bei Marie Luise über ihren Neffen. „Sein Liebeskummer ist mittlerweile in eine richtige Melancholie ausgeartet.“
„Das eine bedingt das andere …“, warf Marie Luise ein. „Deshalb habe ich ihn ja in letzter Zeit öfters zu den Soireen und Kammerkonzerten in unserem Palais eingeladen. Aber er ist nie erschienen.“
„Ich weiß, trotzdem vielen Dank für Ihre Versuche, ihn außer Haus zu locken. Er geht fast überhaupt nicht mehr aus, bläst andauernd Trübsal. Angeblich laboriert er seit Wochen an einer Erkältung, nur ist davon wenig zu bemerken. Er ist nicht einmal verschnupft.“
Vera von Karoly, die ihren Neffen über alles liebte und normalerweise viel Verständnis für seine Stimmungsschwankungen zeigte, verwünschte diesen Hypochonder in letzter Zeit.
Gustav befürchtete nach wie vor, dass seine große Liebe Dorothea, die gerade in Zürich ihr Medizinstudium beendete, wieder zu ihrem Ex-Verlobten Dr. Jank zurückkehren könnte. Dorothea hatte lange nichts von sich hören lassen. In ihrem letzten Brief vom 14. Februar hatte sie von der Auflösung der Verlobung geschrieben. Wer weiß, was mittlerweile passiert war? Womöglich hatten sich die Verlobten inzwischen wieder versöhnt?
Gustav von Karolys Ruf als Privatdetektiv war ausgezeichnet, vor allem, seit er den Mord am Wiener Dombaumeister aufgeklärt hatte. Er konnte sich vor Aufträgen kaum retten, vertröstete aber alle neuen Auftraggeber auf später, behauptete, völlig ausgebucht zu sein und lag lieber im Bett, las die Neuausgabe der Schriften von Friedrich Nietzsche und die jüngsten Veröffentlichung