EINLEITUNG
Abschied vom Determinismus der Gene
Bei Wikipedia ist unter dem Stichwort »Gen« zu lesen: »Die Definition, was ein Gen ist, hat sich ständig verändert und wurde an neue Erkenntnisse angepasst«, sodass keine Version so etwas wie Endgültigkeit für sich beanspruchen kann. Und dann gibt der Artikel höchst konkret die folgende Auskunft: »Für den Versuch einer aktuellen Definition benötigten fünfundzwanzig Wissenschaftler [der University of California in Berkeley] Anfang 2006 zwei Tage, bis sie eine Version erreichten, mit der alle leben konnten.« Diese Definition lautet: »A gene is a locatable region of genomic sequence, corresponding to a unit of inheritance, which is associated with regulatory regions, transcribed regions and/or other functional sequence regions.« Eine sinngemäß ins Deutsche übertragene Version könnte lauten: »Ein Gen ist ein Abschnitt aus dem Erbmaterial (dessen chemischer Name mit dem TrioDNA abgekürzt wird, wie vielen bekannt sein dürfte). Es tritt als Einheit der Vererbung in Erscheinung und kann mit anderen Regionen der Erbanlagen in Verbindung treten. Bei diesem Wechselspiel wird es den sie umhüllenden Zellen möglich, etwas hervorzubringen – nämlich Genprodukte. Mit diesen können sie Reaktionen durchführen, die sie für ihr Leben und das des Organismus brauchen, der aus ihnen besteht und von ihren Genen her aufgebaut worden ist.«
Wie nicht anders zu erwarten, haben sich inzwischen andere Konsortien gemeldet, die mit der obigen Definition nicht einverstanden sind und deshalb einen eigenen Vorschlag vorgelegt haben. Alle diese Bemühungen sollen an dieser Stelle in einem Satz zusammengedrängt werden. Er lautet: »Ein Gen ist eine Vereinigung von Abschnitten des Erbmaterials, in der die Information zur Anfertigung einer kohärenten Menge von Produkten steckt, deren Funktionen sich überlappen.«
Leider werfen solche verdichteten Sätze mehr Fragen auf, als dass sie Antworten geben. »Heute kennt kein Molekularbiologe mehr alle wichtigen Tatsachen über das Gen.« So beginnt die vierte Auflage eines wirkungsmächtigen und weit verbreiteten Lehrbuchs aus dem Jahr 1987, das vor den erwartungsvollen Studenten auf mehr als tausend Seiten eineMolecular Biologyof the Gene ausbreitet.1 Wenig überraschend sind die folgenden Auflagen der inzwischen mehrbändigenMolekularbiologie des Gens noch dicker und imposanter geworden. Längst wird es keinem einzelnen Wissenschaftler mehr zugetraut oder zugemutet, die »wichtigen Tatsachen über das Gen« zuverlässig und umfassend darzustellen. Die Autoren selbst kennen sich wahrscheinlich gerade einigermaßen in den von ihnen verhandelten Teilbereichen aus, oder etwas zynisch formuliert: Je länger einzelne Experten mit dem Gen arbeiten, desto weniger wissen sie darüber. Dieses Buch möchte zeigen, dass die Gene wie das Leben sind, nämlich unerschöpflich, unergründlich und enorm beweglich.
Die Gene haben sich extrem gewandelt, seit sie erstmals Eingang in ein modernes Lehrbuch gefunden haben. Soll heißen: Das Verständnis für die genetischen Prozesse und Abläufe im lebendigen Körper hat sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, seit sich die Naturwissenschaften erfolgreich und im großen Stil damit befassen. Mit dem Zeitpunkt ihres erstens Auftritts in einem Lehrbuch ist das Jahr 1965 gemeint. Damals erschien die erste Auflage des WerksMolekularbiologie des Gens, die inzwischen als klassischer Text ver