: Luigi Capuana
: Giacinta Roman
: Manesse
: 9783641207403
: 1
: CHF 3.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Missbrauch im Kindesalter und eine Ménage-à-trois - das ist der Stoff, aus dem auch 1879 schon Skandale waren. Luigi Capuana provozierte mit seinem weiblichen Entwicklungsroman 'Giacinta' Italiens Moralwächter - doch die Leser liebten ihn umso mehr. Nun ist sein Meisterwerk endlich auch in deutscher Sprache zu entdecken.

Giacinta Marulli ist eine erstaunliche Heldin: Kühl lächelnd und scheinbar berechnend verdreht die junge Frau den Männern den Kopf. Nur hinter vorgehaltener Hand ist von ihrer gestohlenen Kindheit die Rede, die in einer Vergewaltigung ihren traurigen Höhepunkt fand. Als der öffentliche Tratsch meint, aus dem Opfer eine verschlagene Täterin machen zu müssen, emanzipiert sich Giacinta und sucht erhobenen Hauptes ihr Seelenheil: in der Heirat mit einem Conte und der gleichzeitigen Liebschaft mit dem Mann ihres Herzens.

Luigi Capuana ist ein genauer Beobachter, der in seinem Roman ein ganzes Panorama kräftig durchbluteter Figuren aus der italienischen Provinz schuf. Lebhaft und detailverliebt erzählt er nach einem wahren Fall das Leben einer tragischen und selbstbewussten Heldin.

Luigi Capuana (1839-1915), Sohn sizilianischer Landbesitzer, lebte nach einem abgebrochenen Jurastudium als Theaterkritiker in Mailand, Florenz und Turin. Er schrieb zahlreiche Novellen, drei Romane und sammelte Volksmärchen. 'Giacinta' wurde bei Veröffentlichung zu einem Riesenerfolg. 1886 erschien nach empörtem Echo der Kritik eine zweite, 'entschärfte' Version.

I

«Herr Oberst!», sagte Giacinta, hakte sich vertraulich bei ihm unter und zog ihn mit mädchenhafter Lebendigkeit ein Stückchen Richtung Terrassentür. «Stimmt es», fuhr sie flüsternd fort, «dass Hauptmann Brogini eine hässliche alte Geliebte hat, die ihn noch dazu schlägt?»

«Verzeihen Sie, mein Fräulein …», entgegnete der Oberst, der auf diese Frage hin aufgehört hatte zu lächeln und tiefernst dreinblickte.

«Wie üblich, die Skrupel!», rief Giacinta verächtlich mit einer trotzigen Geste, die den Offizier um ein Haar aus der Fassung gebracht hätte. «Es handelt sich um eine Wette; sagen Sie schon, tun Sie mir den Gefallen; danach können Sie mich schelten, wenn Sie denn wollen …»

«Ich schelte Sie nicht, dazu habe ich weder das Recht noch die Befugnis», antwortete der Oberst, nun ein wenig milder gestimmt. «Ich schätze Sie ungemein und habe Sie …»

«… sehr gern!», unterbrach ihn Giacinta lachend.

«So sehr, dass ich nicht ohne Missfallen mit ansehen kann, wie Sie sich zu einer Leichtsinnigkeit hinreißen lassen, und sei sie auch noch so unbedeutend.» Um Würde bemüht, zwirbelte der Oberst seinen Schnurrbart.

«Habe ich mich etwa falsch verhalten?», fragte Giacinta etwas verärgert durch die Art und Weise, wie sie sich behandelt fühlte.

«Sie haben sich nicht richtig verhalten, zumindest nicht hier, inmitten all dieser Leute, die stets alles böswillig auslegen, selbst die harmlosesten Dinge.»

«Oh!», erwiderte Giacinta achselzuckend und schüttelte, finster dreinblickend, verächtlich den Kopf.

«Lassen Sie das. Die Etikette …», tadelte sie der Oberst.

«Stimmt es oder stimmt es nicht, dass Hauptmann Brogini …», fiel ihm Giacinta ins Wort und sah ihn herausfordernd mit koketter Ungeduld an.

«Bitte sehr!», sagte der Oberst unvermittelt.

Er rollte einen hinter ihm stehenden Sessel zu sich herum und stellte einen herbeigeholten Stuhl dicht daneben.

«Setzen Sie sich bitte einmal für zehn Minuten hin.»

Giacinta sah ihm kurz in die Augen, dann machte sie es sich, den Kopf in den Nacken geworfen, den Blick abgewandt, im Sessel bequem. Ein Bein, etwas weiter vorgestreckt als das andere, gab die Spitze ihres Stiefelchens unter dem Volant ihres Kleides preis.

Die kleine und zierliche Gestalt, derart eingesunken in die weichen Polster und wie modelliert durch den Faltenwurf ihres Kleides, erinnerte an ein Juwel in einem Kästchen aus azurblauem Samt und weicher Watte in Rosé.

Der Oberst setzte sich so hinter sie, dass er ihr möglichst nahe war; das Kinn auf die Rückenlehne ihres Sessels gestützt, begann er leise mit ihr zu sprechen, wobei er ab und zu innehielt, um in ihrem Gesicht zu lesen, wie sie das aufnahm, was er ihr da eins ums andere sagte. Giacinta deutete bald ein Ja oder Nein mit dem Kopf und dem zierlichen Schildpattfächer an, den sie in ihrer Rechten hielt, bald riss sie ihre schönen tiefschwarzen Augen weit auf, dann wieder schürzte sie mit gerunzelter Stirn verdrießlich die Lippen – da aber hielt der Oberst sogar mitten im Satz inne, unsicher und zögerlich, ob er fortfahren solle.

Ein Lächeln der Genugtuung, das alsbald auf Giacintas stolze Haltung folgte, begleitet von einem langen gesenkten Blick und einem leichten Kopfnicken, ließ bestens erkennen, wann der Oberst seinen Standpunkt geändert oder besser erläut