Ankunft in Berlin und auf Zimmersuche
Eines Morgens, im Frühjahr 1928, kommt ein junges Mädchen mit dem Leipziger Zug auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an. Niemand erwartet sie. Niemand beachtet sie in dem Gewühl dieses Berliner Arbeitsmorgens, unter dem Rauch eines feuchten, traurigen Himmels. Sie trägt einen anscheinend sehr schweren Handkoffer, denn ab und zu nimmt sie ihn in die andere Hand. Das Mädchen geht langsam mit kleinen Schlenkerschritten und betrachtet mit mürrischem, verschlafenem Gesicht die eifrig herumlaufenden Menschen, Bahnbeamte, Verkäufer, Zeitungshändler, Arbeiter und Reisende. Als sie aus der rußigen Halle herauskommt, ziehen gerade die Regenwolken auseinander, und die Asphaltpfützen glänzen auf. Ein matter Schein huscht über die grauen Häuserfronten, springt über Firmenschilder, an Erkern und vorgetäuschten Balkonen vorbei, über die Straße bis zu diesem kleinen Mädchen, die einige Minuten am Ausgang des Anhalter Bahnhofs stehenbleibt, ehe sie im Gewühl der Stadt verschwinden wird. Ihr Koffer steht neben ihr auf dem Boden, die großen Hände stecken in den Taschen des braun gesprenkelten Mantels. So sieht Erna Halbe zum ersten Male Berlin.
Sie kommt aus einem kleinen Industrienest in der Nähe von Korbetha im Mitteldeutschen. Ihr Vater arbeitet in der Zeche, sie selbst, das vierte Kind von elfen, hat Stenographie gelernt und Schreibmaschine und vier Jahre bei einem Rechtsanwalt gearbeitet. Die Enge im elterlichen Hause, der ewige Streit und Krach paßten ihr nicht mehr. Nach vielen vergeblichen Versuchen und Bewerbungen erhielt sie endlich vor ein paar Tagen eine Zusage aus Berlin. Einhundertdreißig Mark brutto, schrieb die Gesellschaft, Arbeitsantritt Mittwoch früh neun Uhr.
Das war ihre erste große Reise.
Zuerst muß ich mir ein Zimmer suchen, überlegt sie. Sie geht in den Bahnhof zurück und gibt den Handkoffer in die Gepäckaufbewahrungsstelle.
Eine Nacht ist sie gefahren, immer im Halbschlummer, in einem rauchigen Abteil. Auf dem menschenleeren, kalten Bahnsteig des Bahnhofs Bitterfeld hat sie ein warmes Würstchen gegessen, das ist alles, was sie während der Reise zu sich genommen hat, nun knurrt ihr Magen.
Man sieht ihr eigentlich nicht an, daß sie noch nie in dieser Stadt gewesen ist. Langsam geht sie durch die bewegten Straßen nach dem Potsdamer Platz hinüber, etwas neugierig, alles genau betrachtend, aber durchaus nicht mit offenem Munde. Der dürftige Frühjahrsmantel macht das Mädchen noch unscheinbarer, als sie schon ist. Die dürren Beine, die unter dem Mangel komisch hervorstelzen, neigen sanft dazu, ein X zu bilden. Erna weiß das, und doch ist sie nicht sonderlich betrübt darüber. Ihr Leben beginnt erst, und vieles wird sich ändern. Aufmerksam betrachtet sie sich in der Spiegelscheibe eines großen Delikateßgeschäftes. Herrjeh, was hat sie für einen Kopf! Daran ist so ziemlich alles verpfuscht. Die Nase ist zu groß, das rote Haar zu strohig, der Mund zu voll. Am Kinn zieht sich ein ziemlicher Riß entlang, eine Narbe, die von einer schon Jahre zurückliegenden Keilerei mit Jungens herrührt. Selbst an der hohen, breiten Stirn fällt ihr nichts Lobenswertes auf, der angenehme weite Schwung, die hervortretenden Hügel über den Augen, all das findet sie nicht sonderlich erwähnenswert, sie bemerkt höchstens uns den zarten Schleier Sommersprossen, der darüber hinzieht und auch noch auf der Nase ein paar große Tupfen aufleuchten läßt. Sie zieht vor dem Spiegel eine Grimasse; obwohl sie nicht eitel ist, empfindet sie doch eine gewisse Bewunderung für besondere und kostbare Dinge und hat klare, einfache Begriffe von schön und häßlich.
In diesem Augenblick fühlt Erna, daß ihr jemand zusieht. Dieses komische Gefühl täuscht sie selten, und sie erschrickt