PROLOG
Brest, Frankreich, 5. August 1791
Ihre Tochter wollte nicht aufhören zu weinen. Evelyn hielt Aimee auf dem Schoß und betete, dass sie sich beruhigte – ein schier aussichtsloses Unterfangen angesichts der schlechten Straßenverhältnisse und der irrsinnigen Geschwindigkeit, mit der die Kutsche durch die Nacht raste und die Passagiere auf ihren Sitzen hin und her schleuderte.
Wenn Aimee doch nur schlafen würde! Nun, da es ihnen geglückt war, aus Paris zu fliehen, hatte Evelyn Angst, dass man ihnen gefolgt war und das Schreien des Kindes Verdacht erregte und unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie zog.
Doch ihre Tochter hatte Angst, weil sie selbst Angst hatte. Ein Kind spürte die Gemütsregungen seiner Mutter. Und Evelyn hatte Angst um Aimee. Es gab nichts Wichtigeres für sie als das Kind. Sie würde ihr Leben geben, um es zu schützen.
Aber was, wenn Henri starb?
Evelyn d’Orsay drückte das vierjährige Mädchen fest an sich. Sie saß vorn, neben dem Kutscher Laurent, der gleichzeitig der Kammerdiener ihres Mannes war und sich als wahrer Alleskönner entpuppt hatte. Der Comte d’Orsay hing zusammengesunken auf der hinteren Sitzbank zwischen ihrer Zofe Bette und Laurents Frau Adelaide. Evelyn warf einen Blick über die Schulter. Ihr Ehemann war totenblass.
Es stand nicht gut um seine Gesundheit. Schon seit ein paar Jahren litt Henri an der Schwindsucht. Würde er diese aberwitzige Jagd durch die Nacht und die Überfahrt nach England überstehen, oder musste sie fürchten, dass ihn sein Herz im Stich ließ? Die Anstrengungen waren Gift für ihn. Er brauchte dringend einen Arzt.
Wenn es ihnen nur gelang, aus Frankreich herauszukommen, wenn sie es nach England schafften! Dann waren sie in Sicherheit.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie flüsternd. Aimee hatte aufgehört zu weinen; sie war tatsächlich eingeschlafen.
„Wir sind fast da, glaube ich.“ Laurent und sie sprachen Französisch miteinander. Evelyn war Engländerin, doch sie hatte die Sprache schon fließend beherrscht, als sie den Comte d’Orsay kennengelernt hatte und gleichsam über Nacht seine blutjunge Braut geworden war.
Die Pferde waren schweißbedeckt und schnaubten vor Anstrengung. Gottlob hatten sie ihr Ziel bald erreicht, jedenfalls wenn Laurent sich nicht täuschte. Bald würde es hell werden. Der belgische Schmuggler, der sie an Bord seines Schiffes nehmen sollte, erwartete sie bei Sonnenaufgang.
„Werden wir uns verspäten?“ Evelyn sprach leise, was angesichts des Ratterns und Ächzens der Kutsche lächerlich war.
„Ich schätze nicht“, erwiderte Laurent stirnrunzelnd. „Aber wir sollten keine Zeit verlieren.“ Er streifte sie mit einem kurzen Seitenblick. In seinen Augen las sie Sorge.
Evelyn wusste, was ihm durch den Kopf ging – sie alle dachten an nichts anderes. Die Flucht aus Paris war gefahrvoll gewesen. Sie würden niemals zurückkehren, auch nicht in ihr Schloss im Loiretal. Sie mussten Frankreich für immer verlassen. Ihr Leben stand