1. KAPITEL
England – 1816
Harry Pendleton sah das Mädchen über die schmale Landstraße laufen – nur wenige Sekunden bevor er an den Zügeln zerrte und das Gespann abrupt zum Stillstand zwang. Während er klirrendes Zaumzeug, schrilles Wiehern und die Flüche des Reitknechts hörte, brachte er die verwirrten Pferde unter Kontrolle. Eine so grobe Behandlung waren sie nicht gewöhnt.
Nun begann er ebenfalls zu fluchen. Beinahe wäre die junge Frau unter die Hufe geraten. „Was, zum Teufel, bilden Sie sich eigentlich ein?“, donnerte er, warf dem Reitknecht die Zügel zu und sprang vom Fahrersitz. „Ich hätte Sie töten können!“
„Wären Sie nicht so schnell gefahren, hätte mir keine Gefahr gedroht.“ Trotz ihrer Blässe und der zitternden Hände warf sie herausfordernd ihr langes Haar in den Nacken. Verächtlich starrte sie ihn an. „Für ein so halsbrecherisches Tempo sind diese Landstraßen nicht geschaffen, Sir. Und ich hatte keine Ahnung, dass Sie plötzlich um die Biegung rasen würden …“
„Sicher waren die Hufschläge und das Geräusch der rollenden Räder laut genug“, verteidigte er sich, obwohl er ihr teilweise recht geben musste. „Was, um alles in der Welt, hat Sie veranlasst, wie von Furien gehetzt über die Straße zu stürmen?“
„Ich sah Primeln auf der anderen Seite, und die wollte ichpflücken. Glauben Sie mir, Sir, das ist eine sehr ruhige Straße. Hier fährt niemand so schell wie Sie.“
„Wahrscheinlich weil niemand dazu fähig ist.“ Noch während er sprach, erkannte er, wie lächerlich und arrogant seine Worte klangen. Das passte nicht zu seinem Wesen. „Wenn Sie die Straße in der Nähe einer Biegung überqueren, sollten Sie vorsichtiger sein, Miss …“ Erst jetzt merkte er, wie schön sie war. Ihr Haar, das im Wind flatterte, glich gesponnenem Gold. In ihren klaren meergrünen Augen hätte ein Mann fast ertrinken können. Fasziniert starrte er sie an. „Verzeihen Sie, ich kenne Ihren Namen nicht.“
„Den werde ich Ihnen auch nicht verraten, Sir“, entgegnete sie und hielt seinem Blick stand. „Ich finde Sie anmaßend und unhöflich. Und jetzt werde ich gehen.“
Verblüfft schaute er ihr nach, als sie davoneilte und über einen Zauntritt am Straßenrand kletterte. Nun wurde ihm bewusst, wie schlecht er sich benommen hatte.
„Tut mir leid!“, rief er ihr nach. „Ich sorgte mich, weil ich Sie beinahe getötet hätte. So rüde wollte ich Sie nicht anherrschen.“
Sie drehte sich nicht um, sondern entfernte sich auf einer Blumenwiese. Eine Zeit lang beobachtete er sie noch, dann schüttelte er den Kopf und stieg auf den Fahrersitz seines Phaetons. Sein verdammtes Temperament war mit ihm durchgegangen. Nur ganz selten verlor er seine Selbstkontrolle. Aber an diesem Morgen war es geschehen. Statt die junge Dame anzuschreien, hätte er sich vergewissern sollen, ob sie mit dem Schrecken davongekommen und ansonsten wohlbehalten war. Einige Sekunden lang erwog er, ihr zu folgen. Aber er musste sich beeilen. Er hatte versprochen, seine Freunde zu treffen, und sich ohnehin schon verspätet.
Die Stirn gerunzelt, fuhr er weiter – diesmal etwas langsamer. Offenbar war die junge Frau unverletzt. Doch er hatte nicht danach gefragt. Zumindest hätte er sich erkundigen sollen, ob sie seine Hilfe brauchte. Wenn er auch den Eindruck gewann, dass sie nicht darauf angewiesen war … Lächelnd entsann er sich, wie selbstsicher sie seine Vorwürfe beantwortet hatte. Ihre Nerven hatten offensichtlich keinen Schaden erlitten. In der Stadt wären die meisten jungen Damen einer Ohnmacht nahe, würden sie einem so ungehobelten Gentleman begegnen. Nun, nach ihrer Kleidung zu schließen und weil sie ohne Hut und Begleitung umherstreifte, war sie zweifellos ein Landmädchen – vielleicht die Tochter des ortsansässigen Vikars. Vermutlich würde er sie nie wiedersehen. Obwohl er ein ge